Bruderschatten
Eltern jedoch hatte ich es gut. Ich zog im September nach Leipzig, um Publizistik zu studieren. Meine Ankunft dort fiel in jene Zeit, in der die berühmten Montagsdemonstrationen das alles beherrschende Thema waren. Niemanden kümmerte, wer ich war, woher ich kam, was ich erlebt hatte. Wenn man jemanden kennen lernte, gab es nur eine Frage: Gehst du montags mit in die Nikolaikirche zum Friedensgebet und dann auf die Demo? Die Antwort spaltete die Menschen und trieb sie um. Von den Toten in einer weit entfernten kleinen Stadt nahe der Grenze zur Bundesrepublik hatte in Leipzig nie jemand gehört – und es interessierte auch niemanden.
Doch während das Land in diesem Herbst seiner Befreiung entgegendemonstrierte, begann für meine Eltern eine Zeit der Enttäuschungen und Demütigungen. Dass ihre Fenster im Herbst des Mauerfalls gleich zwei Mal mit einem Stein zertrümmert wurden, war nur der Auftakt zu einer jahrelangen Hetze, die meine Mutter immer tiefer in Depressionen stürzte.
Mein Vater tat alles, um ihr zu helfen. Nicht nur weil er Arzt war, sondern vor allem, weil er nie aufhörte, sie zu lieben. Nach ihrem ersten Schlaganfall verkaufte mein Vater seine Praxis, um sich ganz meiner Mutter zu widmen. Sie war das Zentrum seines Lebens, wie er das Zentrum ihres Lebens war, und sie hatten einander Halt gegeben.
Ich betrachtete meinen Vater, der noch immer lächelte. In den letzten Monaten war er stark gealtert, und seit einiger Zeit plagten ihn Schmerzen im Knie und in den Fingergelenken. Er hatte an die zehn Kilo verloren, und wenn er sich unbeobachtet fühlte, ließ er die Schultern hängen. In solchen Momenten sah man ihm an, wie müde und erschöpft er war. Doch wenn es darauf ankäme, dann würde er mich mit allem verteidigen, was ihm zu Gebote stand. Denn auch ich gehörte zum Zentrum seines Lebens, selbst wenn ich in den letzten zwanzig Jahren nur noch kurz zu Besuch kam wie ein flüchtiger Geist und dann wieder in einem anderen Leben verschwand, mit dem meine Eltern kaum etwas zu tun hatten und von dem sie auch nur wenig wussten.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte mein Vater, während die Nachrichtensprecherin den Wetterbericht verlas.
»Hm.«
»Bist du sicher?«
Ich nickte, dann hörten wir beide dem Wetterbericht zu. Es würde milder werden. Um die null Grad. In niederen Lagen, also bei uns, wäre am späten Nachmittag mit Schneeregen und überfrierender Nässe zu rechnen. Schönes Winterwetter klang anders.
»Wenn man jemanden liebt, sollte man ihn festhalten«, sagte mein Vater und legte sein Brötchen zur Seite.
Es war das falsche Thema.
»In all den Jahren hast du nicht gewagt, dich auf eine ernsthafte Bindung einzulassen. Ich hatte dafür immer Verständnis. Aber glaub mir, eine feste Beziehung wird dir dein Leben erleichtern. Deine so genannte Freiheit hat doch nur einen trügerischen Reiz, und deine Karriere wird dich nicht über die einsamen Abende hinwegtragen«, fuhr er fort.
»Paps …«, sagte ich ungeduldig, aber er unterbrach mich.
»Es ist dein Leben. Ich weiß. Und ich sollte mich nicht einmischen. Aber sieh dich an. Du bist aufgeblüht. Ich habe dich noch nie so glücklich gesehen wie im letzten Jahr. Und glaub mir, deine Mutter war darüber genauso froh wie ich.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Aber wie kann ich glücklich sein, wenn Alex nicht damit klarkommt, dass ich vor über zwanzig Jahren einen Mann liebte, den mein Bruder umgebracht hat?«
»Ist er deshalb weggefahren?«
Ich nickte, dann köpfte ich mit aggressivem Schwung das Ei, das mein Vater mir gekocht hatte.
»Du solltest ihm nachfahren.«
Jetzt reichte es mir aber.
»Ich laufe doch keinem Mann hinterher.«
Ich löffelte den oberen Teil des Eis. Köstlich. Seit ich schwanger war, gehörten weichgekochte Eier zu meinen Lieblingsspeisen.
»Jetzt lass mal deinen Stolz beiseite. Der Mann liebt dich, du hast ihm etwas Entscheidendes aus deinem Leben verheimlicht und es nur unter Druck erzählt. Das ist wahrlich kein Vertrauensbeweis. Mit mir hättest du so etwas auch nicht machen können.«
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte ich und widmete mich dem Rest des Eis, dessen Dotter mich goldgelb anlachte.
»Ich könnte sagen, du hättest es ihm früher erzählen müssen. Aber das steht mir nicht zu.«
»Es ist schwierig, darüber zu sprechen«, rechtfertigte ich mich.
»Das wird er wissen. Aber tu dir selbst einen Gefallen. Sitz hier nicht rum, sondern fahr nach Hause, pack deinen Alex beim Schopf
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