Bruderschatten
solcher Strafen hielt allerdings nie lange vor, und ich war auch viel zu kaputt, um mich noch weiter mit ihm zu streiten.
Als ich später im Bett lag und über den Tag nachdachte, kam mir mein Verhalten lächerlich vor. Ich hätte es ihm doch erzählen können. Er würde es früher oder später sowieso erfahren. So aber hatte ich ihn behandelt, als wäre er ein dummer Junge.
»Erzähl«, sagte mein Vater, als wir aus dem Wohnzimmer laut den Fernseher hörten. Auch eine Form der Revolte.
Ich begann mit dem Moment, als ich zu Kortner ins Auto gestiegen war. Ich ließ nichts aus. Er hörte geduldig zu, sagte die ganze Zeit kein Wort und zeigte keine Reaktion. Nicht einmal als ich sagte, dass Kortner behauptete, Eddie hätte Charles erschossen. Auch nicht, als ich erzählte, dass Margo ermordet worden war.
Er wandte sich ab und sah stumm aus dem Küchenfenster. Ich betrachtete ihn. Er saß sehr aufrecht. Vielleicht war er, während ich geredet hatte, ein wenig blass geworden. Doch nicht einmal das konnte ich bei dem Zwielicht in der Küche beschwören.
Die Polizeisirene war längst verstummt, von nebenan hörte man lautes Lachen aus dem Fernseher.
Mein Vater kannte keinen Siggi Meier, und es beeindruckte ihn auch nicht, dass der Mann gewusst hatte, wo der Schlüssel lag.
Adam zuckte mit den Achseln: »Es ist nicht gerade das originellste Versteck. Und lass dir ein für allemal sagen: Deine Mutter musste mit ansehen, wie Leo seinen besten Freund getötet hat. Egal, was Kortner dir erzählt hat.«
Ich nahm die Milch und trank einen langen gierigen Schluck aus der Packung. »Hör auf, mir etwas einreden zu wollen.« Es klang aggressiver, als ich gewollt hatte.
»Ich rede dir nichts ein«, sagte mein Vater, »aber vielleicht Kortner. Überleg dir, wem du traust, deinem Vater oder diesem Kommissar, der deinen Bruder schon einsperrte, als er noch nicht einmal volljährig war, und der einem Serienmörder einen Deal anbot, nur weil er eine perfekte Aufklärungsquote wollte. Und überleg dir, warum er es dir jetzt erzählt, wo Eddie sich nicht mehr wehren kann.«
Die Vertrauensfrage. Die Frage aller Fragen. Sie war gekoppelt an Versprechen, erforderte oft Bekenntnisse und manchmal Schwüre. Ich hatte Glück. Ich sollte weder etwas versprechen noch etwas schwören. Ich sollte mich nur bekennen. Doch konnte ich das?
Der Kortner, den ich erlebt hatte, war am Ende gewesen. Ein gebrochener Mann. Weshalb hatte er mich aufgefordert, Leo zu warnen, falls der sich bei mir melden würde? Koslowski hatte vermutet, dass Leo eine Begegnung mit Kortner nicht überleben würde. Kortner, dachte ich, wusste mehr. Die Frage war, ob mein Vater auch mehr wusste, als er zugab.
»Margo hat Charles’ Leiche identifiziert, nicht wahr?«, fragte ich.
»Wer sonst? Andere Angehörige hatte Charles ja nicht.«
»Wer hat erzählt, dass Leo geschossen hat?«
Er massierte sich die Nasenwurzel. »Es war Eddie. Sie kam dazu, als die beiden sich stritten.«
»Worüber haben sie sich gestritten?«
Er dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Ich glaube, das habe ich Eddie nie gefragt.«
»Und das soll ich dir glauben?«
»Wann gehen junge Männer wohl aufeinander los? Doch meistens, wenn es um Frauen geht, oder?«
»Und das reichte dir?«
Er sah mich an. »Man kann nicht alles bis in jede Einzelheit zerlegen oder gar verstehen.«
»Hast du Leo danach gesehen?«
»Wie bitte?«
Ich wiederholte meine Frage.
»Er war schon weg, als ich kam«, antwortete er.
»Wo war er?«
Er schüttelte den Kopf. »Julie, was soll das? Meinst du wirklich, Eddie hat dich und mich belogen? Das ist nicht dein Ernst. Ich war ihr Mann, und ich bin euer Vater. Niemals hätte sie mich belogen!«
Ich ging nicht darauf ein. Ich dachte an das, was Koslowski mir erzählt hatte.
»Wo versteckte Leo sich, nachdem es passiert war? Jemand muss ihm bei der Flucht geholfen haben.«
Er zögerte.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich und sah so müde aus, als würde er das Gewicht der ganzen Welt tragen.
»Warum habt ihr nie mit mir gesprochen?«, fragte ich.
»Ich hatte doch auch keine Ahnung. Nein, Julie, Eddie hat nicht geschossen«, beharrte er. »Und ich wünsche nicht, dass du weiter so über deine Mutter sprichst. Sie ist erst vor wenigen Tagen gestorben, und jetzt kommt dieser Kortner daher und behauptet, sie habe Charles erschossen und den Mord ihrem eigenen Sohn angehängt? Das ist doch unglaublich.«
»Hast du Leo nach
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