Bruderschatten
Siggi.
Kein Trugbild.
Ich öffnete die Augen wieder. Siggi stand neben mir und blickte unentschlossen von Margo zu mir.
Ich ging durch Scherben und verstreute Bücher zu Margo, kniete vor ihr nieder und strich ihr das dünne rote Haar aus dem Gesicht. Ich betastete vorsichtig ihren Hals auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Es gab keinen Puls, die Haut war kalt und die Leichenstarre hatte längst eingesetzt.
»Wir müssen den Notarzt rufen«, sagte Siggi.
»Sie braucht keinen Arzt mehr«, erwiderte ich.
Er stand unschlüssig neben mir.
Ich sah mich um. Unberührt stand auf dem Couchtisch ein leeres Wasserglas auf einem Untersetzer, daneben eine Vase mit einer getrockneten Hortensienblüte, die angebrochene Schachtel eines Herzmittels und der Inhalator mit dem Asthmaspray. Eine Insel der Normalität. Ich registrierte es wie jemand, der sich in einer Filmkulisse befand, sich auf seinen Auftritt vorbereitete und sich vergewisserte, dass die Requisiten an ihrem Platz standen.
»Ich ruf jetzt trotzdem den Arzt«, sagte Siggi und ging in den Korridor zum Telefon.
Ich war ein Profi für dramatische Geschichten. Es war mein Job, mich Tag für Tag mit den Tragödien, die in das Leben normaler Menschen einbrachen, auseinanderzusetzen. Ich hatte diesen Beruf gewählt, um Leo eines Tages zu verstehen. Doch in diesem Moment schien mir, dass ich ihn gewählt hatte, weil ich nicht genug bekommen konnte vom Leid der anderen, damit mein eigenes an Gewicht und Bedeutung verlor.
Ich rannte hinter Siggi her, riss ihm den Hörer aus der Hand und legte auf, bevor er etwas erwidern konnte.
»Was?«, fragte er.
»Geben Sie mir zehn Minuten«, sagte ich. »Es kommt doch nicht drauf an.«
»Rumschnüffeln is nich«, sagte er. »Ich bin auf Bewährung.«
Margo war tot, aber das hier war eine einmalige Gelegenheit, mich umzusehen, und ich wollte sie nicht ungenutzt lassen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als Siggi von Margo, Charles und mir zu erzählen. Nur kurz, nur in Stichpunkten.
»Sie sind also die Schwester von dem Typen, der ihren Sohn abgemurkst hat. Ist ja ’n Ding.«
»Sie hat es Ihnen erzählt?«
»Sie war ’ne alte Frau«, sagte er. »Einsam, aber noch klar im Kopf. Wenn Sie wissen, was ich meine. Ich hab ihr den Garten gemacht und manchmal nach dem Rechten gesehen. Sie hat mich angerufen, wenn sie einen Anfall hatte. Dreimal klingeln, auflegen. Das war das Zeichen. Hat ja dann nicht mehr sprechen können, die Gute. Und manchmal hat sie mir von sich erzählt.«
Während er sprach, überlegte ich fieberhaft, was ich vorbringen könnte, damit er nicht sofort die Polizei informierte. Mir fiel nur eins ein: Geld.
»100 Euro extra«, sagte ich.
»200«, sagte er. Ich nickte, und damit war die Sache ausgestanden.
»Was’n zuerst?«
»Das Schlafzimmer«, sagte ich und dachte an den Tresor, von dem Charles mir früher erzählt hatte und der dort in einer Wand eingebaut war.
Ich machte Licht im Flur und folgte ihm die Treppe hoch, ohne das Geländer zu berühren.
Oben angekommen, sagte ich zu ihm: »Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich glaube, es ist besser, wenn keiner erfährt, dass wir uns hier umsehen.«
»Dann sollten Sie besser keine Spuren hinterlassen.«
»Zu viel Tatort gesehen, was?«
»Knast«, sagte er. »Ziehen Sie besser die Schuhe aus und fassen Sie nichts an.«
Ich schaute auf meine Schuhe, dann auf die beige melierte Auslegeware. Meine Sohlen hatten dunkle, feuchte Flecke hinterlassen.
»Ich muss auf die Toilette«, sagte ich und ging ins Bad.
Diesmal folgte er mir nicht.
Als ich wieder herauskam, war er nicht mehr da.
»Siggi?«
Keine Antwort.
Ich ging zum Geländer und lehnte mich drüber. Nichts.
Er hatte für Einbruch gesessen. Jede Wette.
Ich zog die Schuhe aus, stellte sie an der Treppe ab und streifte die Handschuhe über, die ich im Bad gefunden hatte. Dann ging ich zu Margos Schlafzimmer.
Ich fühlte mich unwohl, und mein Herz klopfte mit der beunruhigenden Intensität derer, die ein schlechtes Gewissen hatten.
Pfeif drauf, dachte ich. Es war einer der Lieblingssätze meines Bruders.
Ich drückte die Klinke herunter, stieß die Tür auf und steckte den Kopf in das Zimmer.
Wände, Auslegeware, Bettüberwurf, alles in einem strahlenden Blau. Kommode und Kleiderschrank in etwas hellerem Blau. Alles war aufgerissen und durchwühlt worden, Bett, Schränke, Kommoden.
Auf dem Bett lag über dem zerschlitzten Kopfkissen eine Kopie des Bethlehemischen Kindermords . Bis heute
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