Bruderschatten
es nicht mehr erkennen konnte. Ich erinnere mich nicht an jedes Detail, aber ich weiß noch, dass selbst die Sehnen an seinem Kiefer gerissen waren, so brachial hatte man auf ihn eingeschlagen, nachdem er bereits tot war. Wir gingen damals davon aus, dass der Täter ein größeres Eisenteil benutzte. Allerdings wurde es nie gefunden.«
Sie sprach ruhig und sachlich, und ich wusste nicht, was schlimmer war: ihre Gefasstheit oder der Schmerz, der meinen Unterleib zu zerreißen drohte. Ich keuchte und beugte mich vor. Ich schwitzte aus jeder Pore meines Körpers, ich konnte die Übelkeit nicht mehr kontrollieren, und etwas Warmes lief mir an den Beinen entlang.
»Wo ist die Toilette?«, presste ich hervor.
»Müssen Sie sich übergeben?«
»Schwanger«, keuchte ich vornübergebeugt.
»Sie sind schwanger?«, rief sie, rannte aus dem Raum und kam umgehend mit einer Bahre zurück. Sie stützte mich beim Gehen und befahl mir, mich hinzulegen. Sie sprach in irgendein Gerät und schob mich im Laufschritt hinaus.
Ich hielt verzweifelt die Tränen zurück.
»Haben Sie Kopien von Ihren alten Obduktionsberichten? Kann ich den von Charles und Claudia Langhoff nachher sehen?«, stieß ich unter Schmerzen hervor, während sie mit der Bahre durch den Kellergang rannte.
Sie nickte beruhigend: »Sie sind hier unten im Archiv. Ich mache immer Kopien. Aber jetzt entspannen Sie sich. Versuchen Sie tief und ruhig zu atmen.«
Ich schloss die Augen. Wenn nicht noch ein Wunder geschah, verlor ich gerade mein Kind.
34
Draußen war es dunkel.
Sie hatten mich in ein Einzelzimmer gelegt und das Licht gedimmt.
Ich hätte Glück gehabt, hatte der Gynäkologe gesagt. Ich hätte einen Abortus imminens, eine drohende Fehlgeburt gehabt. Die Blutung wäre auf ein Hämatom an der Plazenta zurückzuführen, das mitunter in der Schwangerschaft auftreten und in der Regel von allein ausheilen würde. Sonst wäre alles in Ordnung. Und ich sollte mich freuen. Auf dem Ultraschallbild könnte man ein Mädchen erkennen.
Ein Mädchen? Max wird außer sich vor Freude sein.
Es könnte durchaus zu späteren Blutungen und Unterleibsschmerzen kommen, hatte er außerdem gesagt, und dass das Kind und ich noch nicht über den Berg wären. Ich sollte die nächste Woche im Bett bleiben, mich verwöhnen lassen und mein Leben etwas relaxter angehen.
Relaxter?
Ich hatte ihm nur noch mit halbem Ohr zugehört, denn ein Teil von mir wollte aus dem Bett springen, nach Hause laufen und Max in die Arme nehmen, um seine Wärme, seinen Geruch, seine Haut zu spüren. Und um ihm zu sagen, dass er eine Schwester bekommen würde.
Doch ich war zu erschöpft und müde. Ich brauchte eine Auszeit, nur ein wenig ausruhen, loslassen, wegtauchen. Neben dem Bett auf dem Nachttisch stand ein kleines Radio. Ich stellte es an und kurbelte an dem schwarzen Rädchen, bis ich einen Sender fand. Cher sang »Walking in Memphis«. Das Original von Marc Cohn gefiel mir besser, aber Cher war auch in Ordnung.
Meine Gedanken wanderten zu Max. Er wünschte sich so sehr eine richtige Familie mit einem Vater und Geschwistern. Er sprach nie darüber. Doch es gab Momente, in denen er versunken Väter beobachtete, die ihre Kinder von der Schule abholten, beim Herumturnen auf dem Klettergerüst auf sie aufpassten, am Ostseestrand Softball mit ihnen spielten oder mit ihnen bei Planten un Bloomen Schlittschuh liefen. In diesen Momenten, in denen er ganz in sich versunken war, sah ich ihm bis auf den Grund der Seele, wo er seine Sehnsucht nach Geschwistern, nach einem Vater, nach einer richtigen Familie vor mir versteckt hielt.
Als er noch in den Kindergarten ging, fragte er manchmal, wer sein Papa sei, wo er denn wohne, warum er nicht bei uns sei. Ob er mich und ihn nicht genug liebe, ob wir ihm etwas getan hätten. Es waren Fragen, die mein Herz zerrissen, denn sie offenbarten eine Trauer, die ich nicht trösten, nicht wegpusten, nicht wegküssen und nicht weglieben konnte.
Nur deshalb hatte ich ihn belogen und ihm erzählt, sein Vater sei als Bundeswehrangehöriger seit 1999 im Kosovo-Einsatz gewesen und dort vor seiner Geburt gestorben.
Eines Tages, so hatte ich mir vorgenommen, würde ich ihm die Wahrheit sagen. Eines Tages, wenn er meine Beweggründe verstehen würde. Ich hatte mich vor diesem Tag gefürchtet, wann immer ich daran dachte. Doch dieser Tag war nun, nachdem ich mit Konrad gesprochen hatte, in eine viel zu nahe Zukunft gerückt.
Vielleicht hatte meine Mutter anfangs auch
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