Bruderschatten
und lastete meinem Bruder den Mord an. Aber warum nahm Leo die Schuld auf sich? Und wer hatte Charles postletal so grauenhaft zugerichtet?
Ich bezweifelte, dass Kortner und meine Mutter irgendjemanden in ihre Absprache, Leo hätte geschossen, eingeweiht hatten. Ich bezweifelte auch, dass mein Vater es wusste. All die Jahre glaubte ich, meine Eltern würden eine gute Ehe führen. Doch inzwischen schien es mir durchaus möglich, dass Eddie ein Verhältnis mit Kortner gehabt hatte und er sie deshalb schützte.
Die Version meiner Mutter war herzergreifend. Vor allem wenn sie erzählte, wie Leo sie angebrüllt habe, sie sei schuld, dass er geschossen habe. Niemand mochte ihr sagen, wie Recht er hatte. Sie war für uns die tragische Gestalt, die mit der schrecklichen Wahrheit weiterlebte, dass vielleicht, vielleicht, ohne ihr Eingreifen ihr Sohn seinen besten Freund niemals getötet hätte.
Die Sache hatte nur einen Haken: Die ganze Geschichte war gelogen.
Zweifellos litt meine Mutter, weil sie Charles erschossen hatte und Leo nicht mehr bei ihr war. Aber zweifellos war sie mit den Jahren auch zu einer egozentrischen Frau geworden, die sich aus Schmerz in den Schmerz geflüchtet hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich reglos im Bett lag. Im Radio hatte ich einen dieser Oldiesender erwischt, und inzwischen spielten sie die BeeGees. »You Win Again«, sangen sie mit ihren Falsettstimmen. Sie waren mal die Lieblingsband meiner Mutter gewesen, und sie hatte ihre Songs lauthals mitgesungen. Damals, als sie noch die alte Eddie gewesen war und die drei Brüder Ende der Achtziger gerade ein furioses Comeback erlebten.
35
Ich musste mein Leben ordnen. Ich brauchte Gewissheiten.
Mein Blick fiel auf das graue Telefon neben dem Bett. Ich starrte es an, als könnte es mir bei meiner Entscheidung helfen. Doch es tat nichts dergleichen. Ich überlegte, was ich tun könnte, und mein erster Impuls war, Alex anzurufen.
Ich stieg vorsichtig aus dem Bett, holte meine Handtasche aus dem Schrank und suchte nach dem Handy.
Wieder erreichte ich nur Alex’ Anrufbeantworter, doch diesmal hinterließ ich keine Nachricht.
Dann rief ich meinen Vater an. Es war inzwischen spät geworden, fast acht, und ich wollte hier keine Minute länger als nötig verbringen.
»Wieso im Krankenhaus?«, fragte Adam bestürzt. »Was ist passiert, Kind?«
Mir wurde bewusst, dass er nicht wissen konnte, dass ich im Krankenhaus lag. Ich fasste kurz zusammen, was geschehen war, und bat ihn, Max nichts zu sagen und mich allein abzuholen.
»Julie, was machst du nur für Sachen?«, sagte er, und mir schossen Tränen in die Augen.
»Beeil dich«, würgte ich heraus, fiel ins Bett zurück und schloss die Augen. Nur einen Moment. Nur noch einmal entspannen. Gleich würde ich aufstehen.
Die Tür öffnete sich, und jemand betrat das Zimmer.
Es war eine sehr junge Schwester in weißen Jeans unter dem Schwesternkittel. »Sie haben Besuch.«
Ich sah sie fragend an. »Von der Polizei.«
»Wer ist es?«, fragte ich und richtete mich auf.
»Ein Herr Kortner. Wollen Sie mit ihm reden, oder soll ich ihn wegschicken?«
»Könnten Sie ihn bitten, sich zehn Minuten zu gedulden?«
Ich duschte und hatte mich kaum angekleidet, da polterte Kortner herein. Die Wut knallte aus jedem Schritt, ja selbst aus dem nachgezogenen Bein. Sie sprang aus der eckigen Bewegung seiner Arme und aus dem vorgeschobenen Kopf mit diesem dämlichen Hut obendrauf.
»Guten Abend«, sagte ich höflich, als würde ich die Wut nicht bemerken.
»Lassen Sie zukünftig diese Sperenzchen«, fuhr er mich an, ohne zurückzugrüßen. »Hauen Sie nie wieder ab, wenn wir Ihnen schon ein Auto vors Haus stellen. Sie haben es offenbar nicht begriffen.«
»Was?«
»Denken Sie wirklich, jemand von uns glaubt, Sie seien so blöd, Ihren Bruder zu treffen, selbst wenn er jetzt da wäre? Glauben Sie wirklich, wir würden Ihnen deshalb ein Auto derart sichtbar vor die Tür stellen?«
Er schob seinen Hut ein wenig zurück und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab.
»Frau Lambert, da draußen rennt ein Psychopath rum, der kein Pardon kennt. Begreifen Sie nicht, dass Sie in einer Geschichte herumwühlen, die eine Nummer zu groß für Sie ist? Wenn der Typ, der diese Frauen umgebracht hat, glaubt, Sie würden ihm gefährlich werden, wird er auch vor Ihnen nicht Halt machen. Könnten Sie das bitte in Ihrem Bewusstsein verankern?« Er betrachtete kurz das Taschentuch, faltete es mit einer routinierten Bewegung
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