Bruderschatten
Leichen. Seit über 30 Jahren kam meistens Bea Rudolf nach Solthaven.
Der fensterlose Raum war in einem tristen 1970er-Jahre-Beige gefliest und wurde von Neonröhren in kaltes Licht getaucht. Sechs Rollbahren aus glänzend poliertem Edelstahl standen in einer Reihe längs nebeneinander. Fünf Tote waren mit Laken bedeckt. Die sechste Leiche war unbedeckt, weiblich und nackt. Vor ihr stand Bea Rudolf in einem grünen Kittel und sprach in ein Diktiergerät.
Als sie mich bemerkte, überflog ein ärgerlicher Ausdruck ihr Gesicht, und sie beendete die Aufnahme. Was ich wollte, fragte sie, während sie die Frau mit einem Laken bedeckte. Die Füße der Toten schauten hervor. An ihrem großen Zeh hing ein gelber Zettel.
Ich zeigte ihr meinen Presseausweis, erklärte, dass ich für eine Hamburger Tageszeitung arbeitete und dass Felix Kortner mich schickte, um ihr ein paar Fragen zu stellen. Es würde nicht lange dauern.
Sie nickte und bat mich, mit nach nebenan ins Dienstzimmer zu kommen.
Schließlich saßen wir uns gegenüber.
»Was wollen Sie wissen?«, fragte sie.
»Sagt Ihnen der Name Charles Swann etwas?«
»Seine Mutter liegt hier bei mir.« Sie konnte ihre Verblüffung kaum verbergen, dass ich ihr nicht als Erstes Fragen zu Margo oder Nora Schnitter stellte.
Von draußen waren Stimmen zu hören.
»Haben Sie Charles Swann damals auch obduziert?«
Eine Tür klapperte, die Stimmen verstummten.
»Wieso interessiert Sie das?« Sie lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und musterte mich interessiert.
»Haben Sie?«
»Felix Kortner hat Sie nicht geschickt, nicht wahr? Sie sind auf eigene Faust hier.«
Sie hatte mich erwischt. Ich nickte. »Tut mir leid. Ich befürchtete, Sie würden sonst nicht mit mir sprechen. Darf ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen?«
»Sie waren seine Freundin, nicht wahr?«, fragte sie zurück, und als ich wieder nickte, sagte sie: »Sie wollen die Einzelheiten nicht wissen, glauben Sie mir.«
»Wurde er von hinten erschossen?«, fragte ich. »Wissen Sie das noch?«
Bea Rudolf betrachtete mich. »Warum tun Sie sich das nach all den Jahren an?«
Ihr Blick glitt über mein Gesicht.
»Erinnern Sie sich?«, fragte ich.
Sie zögerte. »Ja, ich erinnere mich. Er wurde von hinten erschossen. Und danach hat man ihn unnötigerweise geschlagen. Wenn er nicht schon tot gewesen wäre …«
Ich unterbrach sie. »Geschlagen?«
Ihre Augen wurden schmal. »Frau Lambert, Ihr Bruder hat da ganze Arbeit geleistet.«
»Was meinen Sie damit?«
»Jemand hat Charles’ Schädel nach seinem Tod bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und auf seinen Körper eingeprügelt. Dahinter steckte sehr viel Hass. Glauben Sie mir. Auch als Gerichtsmedizinerin sieht man so etwas nicht jeden Tag. Es war grauenhaft, sonst würde ich mich nicht so genau daran erinnern.«
Es war ein unheimliches Gefühl, das sich in mir ausbreitete. Als würde ich ins Leere fallen. Nein, dachte ich, nein. Es war kein Hass. Zu so etwas war Leo nicht fähig.
»Könnte es Kalkül gewesen sein?«
Sie überlegte einen Moment.
»Es war Hass«, sagte sie. »Von dem Kopf Ihres Freundes war nicht mehr viel übrig.«
»Musste Margo Charles dennoch identifizieren?«
»Ja.«
»War es leicht für sie?«
»Leicht?« Bea Rudolf sah mich ungläubig an.
»Konnte sie ihn problemlos identifizieren?«
Sie dachte einen Moment nach. »Ich glaube, er hatte ein daumengroßes Muttermal an der Innenseite eines Schenkels. Von daher war es für sie leicht.«
Ein neuer Schmerz zuckte durch meinen Unterleib, und mir wurde übel. Ich riss mich zusammen, holte tief Luft und fragte: »Wie hat Margo reagiert?«
Der Schmerz wurde stechender. Ich biss die Zähne aufeinander. Nicht jetzt, dachte ich.
»Sie hat geweint. Wissen Sie, niemand möchte sein Kind so sehen, nachdem …« Sie schwieg und sah mich besorgt an.
»Nachdem?« Ich bekam kaum noch Luft vor Schmerz.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich nickte.
»Wollen Sie das wirklich wissen?«, fragte sie.
»Ich bin Gerichtsreporterin. Ich halte es schon aus«, sagte ich mühsam. Die Wände schoben sich auf mich zu, und der ohnehin kleine Raum wurde winzig.
Bea Rudolf lehnte sich in ihrem Sessel zurück, verschränkte die Finger über den Hüftknochen, ihre beiden Mittelfinger zeigten wie eine Schere auf mich. Bitte mach hin, dachte ich, ich habe keine Zeit mehr.
»Seine Rippen waren gebrochen und hatten sich in sein Herz gebohrt. Sein Gesicht war durch Schläge so verunstaltet, dass man
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