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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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liebte: Max.
    »Was geschieht, wenn ich ihn treffen möchte?«, fragte Konrad.
    »Möchtest du?«
    »Ich weiß nicht. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich habe eine Frau, die ich liebe, und einen kleinen Sohn. Soll ich denen jetzt erzählen, dass ich noch ein Kind habe? Eines, von dem ich zehn Jahre lang nichts wusste? Und dass der Bruder der Mutter höchstwahrscheinlich meine Schwester vergewaltigt und ermordet hat?«
    Er starrte vor sich hin, und für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich fast greifen, was er dachte. Er teilte die Welt gerade in ungleiche Hälften. Zur größeren Hälfte zählten alle Menschen mit ihren Schwächen und Eigenarten wie ich, seine Angestellten und sogar seine Eltern. Und wir waren in seinen Augen ganz gewöhnliche Geschöpfe. Zur anderen Hälfte zählten allein seine Frau und sein Sohn, und sie besaßen keine Schwächen, sondern erhoben sich leuchtend über dem Rest der Menschheit. Es war seine Art zu lieben, und in diesem Augenblick wünschte ich mir, Konrad würde Max in diese winzige Hälfte mit einschließen.
    »Wir sollten in Ruhe darüber nachdenken, wie wir zukünftig damit umgehen«, sagte ich, und er nickte und wirkte wieder fast erleichtert.
    »Lass uns gehen«, sagte er. »Mein Sohn wartet auf mich.«
    Wir trennten uns an der Holzplanke. Nach ein paar Metern drehte ich mich noch einmal um. Konrad stand da, wo ich ihn verlassen hatte, und schaute mir hinterher. Ich winkte. Er winkte zurück, und dann ging er davon.
    Was hatte Konrads Vater nach dem Anblick der Leichen gesagt? Leo sei das Bösartigste und Perverseste, was er jemals gesehen habe?
    Entschlossen zog ich mein Handy aus der Jackentasche, wählte die Auskunft und ließ mich mit der Polizei verbinden.
    Ich hatte Glück und erwischte den jungen Beamten, der mir mittags die Fingerabdrücke abgenommen hatte. Er erkannte meine Stimme, und ich bat ihn, mich mit Kortner zu verbinden. Es dauerte eine Weile, dann ging Kortner an den Apparat.
    »Wer hat Charles damals obduziert?«, fragte ich ohne jede Einleitung. Natürlich fragte er, warum ich das wissen wollte.
    Ich ging nicht darauf ein, sondern schoss ins Blaue: »Bea Rudolf, nicht wahr? Und sie obduziert auch jetzt.«
    »Ähm … Warum wollen Sie das wissen?«, fragte er noch einmal, doch ich legte auf. Es war das »Ähm«. Mehr brauchte ich nicht.
    Bea Rudolf würde heute Nachmittag auf jeden Fall noch im Solthavener Krankenhaus anzutreffen sein. Sie würde bis in den Abend hinein arbeiten, und morgen würde sie gegen acht Uhr beginnen und ebenfalls bis spät arbeiten. Sie musste die Leichen von Margo Swann und Nora Schnitter untersuchen und zwei vorläufige Berichte schreiben. Sie musste Blut- und Gewebeproben entnehmen und die Proben mikroskopisch und mikrobiologisch untersuchen. Sie musste Mageninhalte auswerten, diverse DNA-Tests für genetische Fingerabdrücke vornehmen, Schusskanäle untersuchen und Hinweisen und Spuren von Misshandlungen nachgehen. Sie würde den Tod der einen Zwillingsschwester mit dem Tod der anderen vergleichen, den Mord an Margo mit dem an Nora Schnitter und so fort.
    Dieses Wochenende konnte Bea Rudolf ihr Privatleben abschreiben.

33
    Ich lief den Weg bis zur Hütte zurück, folgte einem Forstweg, der sich durch ein Buchenwäldchen schlängelte, und kam unterhalb des Friedhofs auf der Bundesstraße heraus, die in die Innenstadt führte. Ich folgte ihr rund einen Kilometer, während sich der Himmel über mir dunkel färbte. Ich war auf dem Weg ins Krankenhaus, um dort mit der Gerichtsmedizinerin Bea Rudolf zu sprechen.
    Die pathologische Abteilung lag im Kellergeschoss unter der Notaufnahme, und als ich ankam, hoben zwei Rettungssanitäter gerade einen Verletzten aus einem Krankenwagen. Der Notarzt hielt einen Infusionsständer, während die beiden anderen die Bahre transportierten.
    In der Notaufnahme war es bemerkenswert ruhig. Zwei Kinder spielten auf dem Fußboden vor leeren Rollbetten, eine Frau hielt einen alten Mann am Arm und sprach mit einer Schwester, die sich Notizen auf einem Klemmbrett machte. Sie beachteten mich nicht weiter, als ich eiligen Schrittes zum Fahrstuhl ging.
    Ich fuhr hinunter in den Keller und ging dann einen neonbeleuchteten Gang entlang bis zu einer Stahltür, hinter der die pathologische Abteilung lag. Da das kleine Solthavener Polizeirevier keine eigene gerichtsmedizinische Abteilung besaß, untersuchte hier bei ungeklärten Todesfällen ein Gerichtsmediziner vom Landeskriminalamt in Magdeburg die

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