Bruderschatten
erinnert sie sich an alles. An anderen wieder an gar nichts, und dann fragt sie, wo ihr Sohn ist und warum er sie nicht besucht.«
»Ist sie dement?«
»Ja, aber wenn wir Glück haben, hat sie heute einen guten Tag. Und wenn sie erfährt, wer Sie sind, wird sie sich freuen und Sie bestimmt nach Ihrem Vater fragen. Sie wünscht sich so sehr, dass er endlich wiederkommt.«
»Roberta Bartels kennt meinen Vater?«
»Ja, Roberta war früher recht flott unterwegs, und Ihr Vater war ihr Hausarzt.«
»Gibt es da einen Zusammenhang?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Es gibt Gerüchte.«
»Gibt es die nicht immer?«, fragte ich.
Mein Vater soll mit einer seiner Patientinnen ein Verhältnis gehabt haben? Es fiel mir schwer, das zu glauben.
Im dritten Stock stiegen wir aus und gingen einen hellen Gang entlang bis zu Robertas Zimmer.
Schwester Irene klopfte.
Keine Antwort.
»Roberta?« Sie klopfte noch einmal. »Manchmal hat sie morgens ihre Kopfhörer auf.«
Irene zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die Tür auf. Wir betraten den schmalen dunklen Flur eines Apartments. Sie machte Licht, und ich sah mich neugierig um. Ein kleines Bad und eine winzige Kochnische gingen von dem Flur ab, ein Wandschrank nahm die gesamte andere Seite ein.
Schwester Irene öffnete die Tür am Ende des Flurs und winkte mich näher.
In einem Sessel am Fenster saß eine zierliche Person mit dem Rücken zu uns und mit gepolsterten rosa Kopfhörern über den Ohren. Auf ihrem Schoß lag eine Fernbedienung, die auf eine altmodische, hellblaue Dual-Stereoanlage wies.
Sauber, ordentlich und adrett war das Erste, was mir zu dem Zimmer und der alten Dame einfiel. Sie war bestimmt 15 Jahre älter als mein Vater, und ich fragte mich, wer solche Gerüchte in die Welt setzte und ob das nie aufhörte.
Die Auslegeware dämpfte unsere Schritte, als wir auf Roberta zugingen. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die Fotos, die in Silberrahmen auf einer Kommode standen. Immer Mutter und Sohn. Auf keinem Foto gab es außer den beiden noch eine andere Person. Zum ersten Mal überlegte ich, wie es wäre, wenn ich eines Tages in einem Heim leben würde, welche Fotos ich bei mir hätte, ob ich auch so einsam wie Roberta wäre und was es bedeuten würde.
Schwester Irene hatte meinen Blick bemerkt. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich nickte und versuchte ein Lächeln. »Alles in Ordnung.«
Die Augen der alten Dame waren geschlossen. Sie trug ein rosa Twinset zu einer hellblauen Hose und hatte frisch onduliertes kurzes Haar, das eine Spülung in ein leuchtendes Schneeweiß verwandelt hatte.
Nachdem Irene ihr vorsichtig auf die Schulter geklopft hatte, nahm Roberta die Kopfhörer ab.
Schwester Irene stellte mich vor und erklärte ihr, worum es ging.
Roberta wollte gern helfen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, was in dem Schuhkarton war. Es war so lange her. Sie wirkte zuerst resigniert, dann wurde sie wütend auf sich selbst.
Schließlich stand sie auf, ging in den Flur und öffnete den Wandschrank. Sie kniete sich davor und verschwand mit ihrem Kopf darin. Mit drei Schuhkartons in den Händen kam sie wieder zum Vorschein. Sie nahm die Deckel ab, doch in allen drei Kartons waren nur Schuhe. Sie wühlte ein weiteres Mal im Schrank und zog nach und nach ein halbes Dutzend Kartons hervor. Wieder riss sie die Deckel ab und verteilte sie ungehalten im Flur.
Ich sah Schwester Irene an. Sie lächelte, zuckte mit den Schultern und ging dann zu Roberta.
»Kann es sein, dass Sie die Sachen Ihres Sohnes im Keller mit den anderen ausrangierten Dingen verstaut haben?«
Robertas Gesicht hellte sich auf. »O ja, natürlich.« Sie verteilte die Deckel wieder auf die Kartons, Schwester Irene kniete sich neben sie und half ihr.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit Frau Lambert in den Keller gehe und sie ihr zeige?«, fragte Schwester Irene.
»O nein, nein, ganz und gar nicht«, antwortete Roberta guter Dinge. »Das wäre sehr freundlich von Ihnen.« Sie stand auf, wischte sich die Handflächen an der Hose ab und machte Anstalten, sich von uns zu verabschieden.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Roberta nickte und strahlte mich ermunternd an.
»Wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?«
Ihre Lippen wurden schmal, und für einen Moment sah es so aus, als wollte sie weinen, doch ihre Antwort kam schnell und klar: »An dem Tag, als er den Unfall hatte.«
»War er an dem Tag oder kurz vorher anders als sonst?«
»Anders?«
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