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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Aber die Aufzeichnung war alt, und auch Stimmen veränderten sich im Laufe der Zeit.
    Einen Moment überlegte ich, ob Koslowski Lauren vergewaltigt hatte. Doch das passte nicht, denn von seinen Missbrauchsopfern hatte keines überlebt.
    Aber Paul Heinecken? Unser Nachbar, dem wir fast täglich begegnet waren? Auf seine Frau Christa hatte er herabgesehen und sie wie eine Putzfrau behandelt. Seine Kinder hatte er mit cholerischen Anfällen gepeinigt, und wir Nachbarskinder waren ihm ängstlich aus dem Weg gegangen. Bedeutete das aber, dass er Lauren vergewaltigt hatte?
    Als ich älter wurde, hatte Paul manchmal bei uns am Küchentisch gesessen und mit meiner Mutter Kaffee getrunken, nachdem er irgendetwas repariert hatte. Die tropfende Dachrinne, den lecken Warmwasserboiler, die Heckenschere. Reparieren konnte er wie kein Zweiter, sagte meine Mutter. Das war seine andere, seine hilfsbereite Seite, und die eine schloss die andere nicht aus. Trotzdem sträubte sich alles in mir gegen die Vorstellung, dass er Lauren so etwas angetan hatte.
    Und Leo? Nicht eine Sekunde glaubte ich, dass ich meinen Bruder gehört hatte. Leos Lachen war heller, unbeschwerter und mit einem eingesprenkelten, heiseren Grundton, der von einer Fehlstellung seines Stimmdreiecks herrührte.
    Nur wer hatte Lauren das angetan? Wer hatte das Band aufgezeichnet? Von wem hatte Peter Bartels es bekommen, und wessen Stimme lachte über Laurens Pein?
    Es waren zu viele Fragen. Sie krochen auf mich zu wie dunkle Geister, die ihre Widerhaken auswarfen und mich an die Leine nahmen. Es waren Fragen ohne Antworten.
    Ich warf einen Blick aus dem Wagenfenster nach Gregor Patzig. Er saß zurückgelehnt in seinem Autositz, rhythmisch und entspannt mit dem Kopf wippend.
    Ich griff nach dem Handy, rief im Krankenhaus an und verlangte Bea Rudolf. Ich fragte sie, ob ich Charles’ und Claudia Langhoffs Obduktionsberichte lesen könnte. Sie sagte Nein, dazu bräuchte ich eine offizielle Genehmigung. Leider, sagte sie.
    Paula Wenners Telefonnummer hatte ich am Morgen nach dem Gespräch mit Heiner Mundt gespeichert. Ich suchte sie heraus, ließ das Handy die Verbindung herstellen, lauschte dem Freizeichen, wartete und sah über den Parkplatz. Einen Augenblick lang war ich im Begriff, wieder aufzulegen, um nicht auch noch ihre Wunden aufzureißen. Doch dann ließ ich es weiterläuten.
    Sie hob ab und nannte ihren Namen, ich nannte meinen.
    Ich erzählte, für welche Zeitung ich arbeitete und dass ich Fragen zu Peter Bartels Tod hätte. Ihr totes Kind erwähnte ich nicht. Das brauchte ich auch nicht. Paula Wenner stöhnte auf.
    »Kann ich Sie besuchen?«, fragte ich.
    Ihr Atem ging hastig. »Nein«, sagte sie und legte auf.
    Ich drückte die Wahlwiederholung.
    »Bitte«, sagte ich, als sie erneut abnahm. »Es ist sehr wichtig für mich.«
    »Sie sind Leos Schwester?« Ihre Stimme klang jetzt ruhiger, und ihr Atem ging gleichmäßiger.
    »Ja.«
    »Ich las die Todesanzeige von Ihrer Mutter«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
    Ich konnte es nicht mehr hören. Allen tat es leid, aber niemand war zu ihrer Beerdigung gekommen. Als sei sie eine Aussätzige gewesen. Als wären wir, mein Vater und ich, Aussätzige.
    Ich sagte dennoch höflich »Danke«.
    »Es ändert nichts daran, dass ich Ihnen nichts zu sagen habe.«
    »Bitte«, wiederholte ich. »Roberta Bartels hat mir den Schuhkarton mit Peters Bürosachen überlassen.«
    Sie lachte abwehrend auf. »So? Den Schuhkarton?«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie zögerte. »Sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen.«
    »Erklären Sie es mir. Bitte.«
    Sie schwieg.
    Ich lauschte dem Rauschen im Handy. Manche Menschen verlangten sehr viel Geduld und Einfühlung, bis sie bereit waren zu reden.
    »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte ich.
    Keine Reaktion.
    Ich wartete. Ich kannte das aus Interviews.
    »Frau Wenner?«
    »Gut«, sagte sie dann. »Aber nicht hier in der Stadt. Kennen Sie den Bismarckturm?«
    Ich kannte ihn und wandte ein, dass die Zufahrt eine Katastrophe sein würde, doch sie ignorierte meine Bedenken.
    »Können Sie morgen gegen 13 Uhr dort sein?«
    »Ich …«
    »… Können Sie?«, unterbrach sie mich.
    »Ja.«
    »Also bis dann«, sagte sie und legte auf.
    Ich trank den letzten Schluck Kaffee, zerknüllte den Becher, öffnete die Wagentür und zielte auf den Mülleimer, der mit herabhängendem Deckel knapp drei Meter entfernt stand. Ich warf daneben, stieg stirnrunzelnd aus und ging hinüber, um den Becher aufzuheben. Ich klappte

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