Bruderschatten
mal?«
»Nicht von mir«, erwiderte mein Vater.
»Lüg mich nicht schon wieder an. Ich habe die Nase so voll davon.«
»Ich lüge nicht«, sagte er.
»Wo hält er sich tagsüber auf?«, fragte ich.
Mein Vater schüttelte den Kopf.
Während mein Herz im Wutmodus gegen die Rippen trommelte, hörte ich die Jungs schnatternd und lachend die Treppe herunterhüpfen. Ich riss mich zusammen und ging ihnen lächelnd entgegen.
Am Frühstückstisch schob Chris seine Hand tief in die frisch aufgerissene Packung Choco Poppies, Max steckte seine in die Crunchy-Nuts-Packung. Die beiden suchten nach den Weihnachtsfiguren, die die Werbung versprochen hatte. Ich schnitt eine Banane in Scheiben und legte jedem die Hälfte auf den Teller.
Der Anblick der beiden Kinder ließ mich innehalten. Es war alles so normal, als bestünde das Leben aus nichts anderem als glücklichen Kindergesichtern beim Frühstück und Händen, die in Cornflakes nach Werbegeschenken wühlten.
»Es gibt nicht in jeder Packung ein Geschenk«, sagte ich.
»Weiß ich«, sagte Max und grub noch etwas intensiver in der Packung.
»Nicht?«, fragte Chris. Dann zog er seine Hand mit einem triumphierenden Lächeln aus der Packung hervor und hielt eine kleine grüne Papiertüte in die Höhe. Er riss sie mit den Zähnen auf und zog einen zierlichen weißen Blechschneemann mit schwarzen Knopfaugen und einem roten Nasenknopf hervor, der so groß war wie mein Daumen und den Chris an einer Schraube auf dem Rücken aufzog. »Jingle Bells« tönte es blechern durch die Küche.
40
Als ich das Haus verließ, parkte der dunkle Wagen unter der schneebeladenen Platane gegenüber.
Ich ging hinüber. Ein junger, blasser Typ in einer dicken Daunenjacke las in einer Zeitung, die auf dem Lenkrad ausgebreitet lag. Er schaute hoch, als ich an die Scheibe klopfte, und ließ sie herunter.
»Morgen«, sagte ich.
»Morgen«, antwortete er.
»Ich fahre ins Altersheim. Nur damit Sie Bescheid wissen.«
»Danke.«
Hatte ich mich gerade verhört, oder hatte er wirklich »Danke« gesagt?
»Es ist Ihre erste Beschattung, oder?«
Er nickte. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte noch die geraden Schultern und weichen Züge der Jugend und einen offenen Blick ohne jegliche Scheu und Arglist.
»Hatten Sie gestern meinetwegen Ärger?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Ihr Kollege Kortner hat mich jedenfalls ganz schön zusammengestaucht«, sagte ich. »Davon können Sie schon mal ausgehen.«
»Hm«, sagte er. »Mich auch.«
Ich schenkte ihm ein Lächeln. »Passen Sie auch nachts auf mich auf?«
»Nein«, sagte er. »Ich hab die Tagschicht. Ich bin seit sechs Uhr im Dienst. Davor war mein Kollege da.«
»Haben Sie keine Angst, dass ich hinten durch die Gärten verschwinde?« Ich lächelte wieder.
»Wir sollen vorne Präsenz zeigen. Und wir sollen Ihnen immer schön am Heck kleben.«
»Hat Kortner das so gesagt?«
Er schüttelte den Kopf. »Der andere. Carsten Unruh, sein Nachfolger, wenn er nächsten Monat in Pension geht.«
»Na, dann viel Spaß an meinem Heck«, sagte ich, klopfte mit der flachen Hand aufs Wagendach und ging zu meinem Audi.
Die Hanse-Residenz Rosenhof war ein U-förmiges, viergeschossiges Gebäude, das etwas zurückgesetzt von der Straße lag.
In der Lobby plätscherte ein Springbrunnen, künstliche Grünpflanzen rankten in den Ecken, an Tischen standen Clubsessel. Obwohl es für einen Sonntag recht früh war, herrschte bereits reger Betrieb. Zwei alte Damen mit silberweißen Locken gingen mit Rollatoren an mir vorbei. Eine alte Dame spazierte an einem Stock neben einer wesentlich jüngeren Frau her, die wie ein Wasserfall auf sie einredete. Zwei Schwestern sprachen leise mit einem jungen Mädchen, das an einem der Tische saß und weinte.
Am Empfang saß eine junge Frau mit blondiertem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. »Schwester Irene« las ich auf ihrem Namensschild.
Sie sah zu mir hoch. »Sie wünschen?«
Sie besaß ein schelmisches Lächeln und einen kecken Blick.
Ich begrüßte sie und wollte ihr erklären, dass ich zu Roberta Bartels wollte, doch sie winkte ab.
»Ich weiß schon. Wir haben doch vorhin telefoniert«, sagte sie. »Ich werde Sie zu Roberta bringen. Dritter Stock, Zimmer 311.«
Sie kam hinter dem Tresen hervor und ging mit mir durch die Lobby zu den Fahrstühlen.
»Sie dürfen sich nicht zu viel von Roberta versprechen«, erklärte sie mir, während wir mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren. »An manchen Tagen
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