Bruderschatten
Dabei wollte ich nicht. Sie war frech und vorlaut. Immer hatte sie das letzte Wort. Und dann kamen die beiden nicht wieder. Sie hat mich mit Füßen getreten, weil sie nicht fernsehen durfte. Dann habe ich sie in den Schuppen gesperrt. Woher sollte ich denn wissen, dass sie wegläuft? Und drei Monate später haben sie sie gefunden. Da war sie schon lange tot.« Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Sie war sehr aufgeregt, und ihre Wangen sprenkelten kleine rote Flecke.
Die Ärztin ging zu ihr. »Bertie«, sagte sie liebevoll, »Sie sind nicht schuld an dem Tod des Mädchens.« Roberta schluchzte auf, doch sie ließ zu, dass Schwester Irene ihren Arm nahm, sie zum Sessel führte und den Ärmel der Strickjacke über dem dünnen Arm nach oben schob. Die Ärztin klopfte kurz auf die Ellenbogenbeuge und injizierte ihr das Beruhigungsmittel.
Ich schaute ihnen zu.
Roberta lehnte sich zurück und lächelte.
»Gehen Sie«, sagte die Ärztin kurz angebunden zu mir.
»Haben Sie Kinder?«, fragte Roberta in dem Moment, und ich drehte mich zu ihr um. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch über die verweinten Augen.
Ich schaute fragend zu der Ärztin. Sie zuckte mit den Schultern und sah keineswegs freundlicher aus.
»Einen Sohn wie Sie«, antwortete ich.
Sie lächelte immer noch. »Dann passen Sie gut auf ihn auf. Jungs schauen gern zu ihren Müttern auf. Ich war leider eine, zu der man nicht aufschauen konnte.«
»Sie …«, begann ich, doch Roberta sprach einfach weiter: »Genießen Sie jeden Tag mit ihm. Nicht jeder hat das Privileg, vor seinem Kind zu sterben. Wenn das Kind zuerst geht, ist das schlimmer als alles andere.«
»Ich …«, begann ich noch einmal, doch sie unterbrach mich erneut und deutete in Richtung Tür: »Gehen Sie. Gehen Sie runter und schauen Sie in seinen Sachen nach. Ich fürchte, ich schlafe gleich ein.«
»Mit wem könnte ich noch über Ihren Sohn sprechen?«
»Mit dem Pfarrer.« Sie zog die Stirn kraus, und dann lächelte sie wieder. »Aber was red ich. Der ist ja längst tot. Meine Güte, wie die Zeit vergeht! Wir waren jeden Sonntag in der Kirche, auch während der DDR-Zeit, wissen Sie. Wenn man heute darüber nachdenkt …«
Sie lehnte sich zurück.
»Ich bin viel zu müde«, sagte sie matt.
Leise verließen wir das Zimmer – und dann fuhr ich mit Schwester Irene in den Keller.
41
Kurz vor Mittag verließ ich das Altersheim. Ich kurvte durch das Gewirr der Einbahnstraßen im Zentrum der Stadt und holperte schließlich auf einen McDonald-Parkplatz. Gregor Patzig holperte in seinem BMW hinterher und parkte ein paar Reihen vor mir.
Ich holte mir einen Coffee to go extra large, saß im Auto und starrte auf Peter Bartels Diktiergerät, das ich in Robertas Keller gefunden hatte und das nun auf dem Beifahrersitz lag.
Es war ein schwarzes Diktiergerät mit stabilem Gehäuse, wie es früher Reporter benutzt hatten. Ein Band befand sich darin, datiert vom 20. April 1989. Neugierig hatte ich in dem Keller die Play-Taste gedrückt und mir vorgestellt, vielleicht eine damals angesagte Band zu hören oder ein Interview mit einem längst vergessenen Politiker.
Auf dem Band jedoch flehte eine verzweifelte, weinende Stimme ihren Peiniger an aufzuhören, und ich glaubte im ersten Moment, ich lauschte einem Hörspiel.
Als ich begriff, dass ich einer Vergewaltigung zuhörte, war mein erster Reflex Flucht. Ich sprang instinktiv auf, besann mich dann aber und lehnte mich an die raue Kellerwand, als könnte sie mir Halt geben gegen das, was mir entgegenschlug wie ein riesiger Feldstein, den mir jemand gegen den Kopf donnerte.
Fast eine Viertelstunde lauschte ich dem inständigen Flehen des Mädchens, seinem tränenerstickten Bitten, seinem Versprechen, niemandem etwas zu sagen, wenn er sie nur endlich in Ruhe ließe. Dazwischen hörte ich das Lachen des Mannes, sein Stöhnen und Keuchen. Er solle damit aufhören, bat sie: »Bitte, Daddy, ich kann nicht mehr.«
An dieser Stelle brach die Aufzeichnung ab, und ich stand immer noch wie angewurzelt da.
Ich kannte die Stimme. Ich kannte eine ähnliche Verzweiflung darin, als das Mädchen mir am Abend des Abschlussballs erzählt hatte, sie sei schwanger und dürfe das Kind nicht behalten.
Es war Lauren auf dem Band, und ich war Zeugin ihrer Vergewaltigung.
Lauren und Hinner hatten ihren Stiefvater Paul Heinecken Papa genannt. Hier nannte Lauren jemanden »Daddy«. Der Mann sprach nicht, sondern lachte – die Stimme klang anders als Paul Heineckens.
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