Bruderschatten
Sie blinzelte. »Er war immer ein lieber Junge. Nicht so wie die anderen.«
»War er nervös oder irgendwie beunruhigt? Hatte er etwas Besonderes vor? Oder war vielleicht etwas Außergewöhnliches passiert?«, fragte ich.
Robertas Blick wanderte unsicher zu der jungen Schwester, die ihr aufmunternd zulächelte.
Doch Robertas Miene verschloss sich. »Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Ich habe gehört, er hätte sich Hals über Kopf verliebt«, sagte ich.
Sie reagierte nicht darauf. Schwester Irene schüttelte stumm den Kopf, und ich wechselte das Thema.
»Können Sie sich erinnern, ob er über den Kindermörder Koslowski berichtete?«
Bei meiner Frage legte sie den Kopf schief, und Leben kehrte in ihre Augen zurück.
»Natürlich. Ich las ja seine Artikel, und mein Peter sprach ja über nichts anderes. Vor allem nicht, nachdem das Kind …« Sie nestelte fahrig am Saum des rosa Twinset wie ein Kind, das nicht weiterwusste.
»Und was sagte er?«
Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder.
Schließlich flüsterte sie: »Dass er schlimm war, dass er wünschte, es gäbe für solche Menschen die Todesstrafe.«
Ich sah Schwester Irene an, die unser Gespräch inzwischen besorgt verfolgte.
»Glaubte Ihr Sohn, dass Koslowski Claudia Langhoff umgebracht hat?«
Roberta sah mich an. »Wen?«
»Eine junge Frau. Er hat ja nicht nur Kinder getötet.«
»Oh, Sie meinen Thor Langhoffs Tochter. Sagen Sie das doch gleich.« Sie schüttelte den Kopf, so dass die ondulierten Locken tanzten. »Natürlich nicht.« Sie sah mich an, als sei ich verrückt. »Das glaubte doch damals niemand, jedenfalls niemand, der bei Verstand war.«
»Hat Ihr Sohn das so gesagt?«
»Ich glaube schon.«
»Hat er noch mehr dazu gesagt?«
»Was meinen Sie?«
»Hat er Namen genannt? Hatte er vielleicht eine Vermutung? Oder Beweise? Gab es vielleicht Zeugen?«
»Daran erinnere ich mich nicht.« Sie knetete ihre Hände, als würde es ihr helfen, sich zu erinnern. »Es ist schon so lange her.«
»Koslowski war nicht Claudias Mörder«, sagte ich. »Ihr Sohn wusste das. Ich weiß es auch. Und jetzt, so viele Jahre später, versucht jemand, meinem Bruder Leo Lambert diesen Mord in die Schuhe zu schieben.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Leo? Adams Sohn?«
Sie duzte meinen Vater? Das war ungewöhnlich. Er hatte niemals seine Patienten geduzt. »Ja. Adams Sohn.«
»Peter mochte den Jungen. Er sagte immer, aus dem wird mal was ganz Großes.«
»Warum sagte er das?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Der Junge, Leo, war ein paar Mal bei uns zu Hause. Ein netter Junge. Er begrüßte mich immer als Erste. Aber dann waren sie in Peters Zimmer, und ich weiß nicht, was sie da gemacht haben.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, und ihre Schultern zuckten. »Es ging um diese Kinder. Die ganze Zeit ging es um diese toten Kinder. Und um das Kind dieser Frau.«
»Welcher Frau?«, fragte ich zugleich bestürzt und alarmiert.
Sie bedeckte weiterhin ihr Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen.
»Sie braucht etwas zur Beruhigung«, sagte Schwester Irene dicht an meinem Ohr. »Fragen Sie sie um Gottes willen nicht weiter nach dem Kind.«
Roberta hatte sie gehört. Sie schluchzte noch eine Spur lauter.
»Ich gehe etwas holen«, sagte Schwester Irene, und Roberta weinte jetzt hemmungslos.
Ich nahm sie in die Arme. »Es ist doch alles gut«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie und wehrte mich ab. »Nein. Nichts ist gut. Ich habe nicht aufgepasst. Es war meine Schuld.«
»Ihr Sohn war erwachsen«, sagte ich und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Ich habe das Kind nicht beschützt. Verstehen Sie das denn nicht?«, fragte sie. Ihr Kopf lehnte an meiner Schulter, und ich spürte ihre Tränen. Nein, ich verstand nicht, was sie meinte.
Ich hörte Schritte auf dem Gang, jemand sprach, eine andere Stimme antwortete.
»Ich meine das Kind«, sagte Roberta da. »Paula Wenners Kind.«
Die Worte stürzten aus ihrem Mund, und dann schob sie mich energisch von sich weg.
»Oh«, sagte ich, »ich …« Mir fehlten die Worte.
Ich atmete auf, als Schwester Irene das Zimmer gemeinsam mit einer Ärztin betrat, die eine Spritze in der Hand hielt.
»Roberta«, sagte die Ärztin, »es ist alles in Ordnung. Wir geben Ihnen jetzt etwas zur Beruhigung. Danach geht es Ihnen besser.« Sie ging auf die kleine Frau zu. Roberta wich ängstlich einen Schritt zurück.
»Ich sollte auf das Mädchen aufpassen. Nur zwei Stunden haben Peter und Paula gesagt.
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