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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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nahezu unleserlich, und ich packte die ersten Hefte beiseite. Ich überflog die letzten drei. Nichts. Sie enthielten keinen Hinweis darauf, ob Leo oder Charles etwas mit Lauren hatte. Ich erwähnte Lauren in einem Eintrag einen Tag nach dem Abschlussball und ein zweites Mal, als ich Leo und Charles gebeten hatte, sich um sie zu kümmern.
    Ich suchte Notizen zu Charles und mir in diesem letzten Jahr und ob wir uns gestritten hatten oder ob ich Anzeichen fand, dass er sich von mir abwandte.
    Ich las über einen Streit, weil ich seinen Roller fahren wollte, obwohl ich keinen Führerschein besaß, weshalb er es nicht erlaubte. Ein anderes Mal hatten wir gestritten, weil ich mit ihm zum Zelten an die Ostsee fahren wollte und seine Mutter es verbot. Einen Streit hatten wir, weil Margo fand, Charles würde meinetwegen zu wenig lernen und die Schule vernachlässigen. Er sollte nicht mehr so oft zu mir kommen. »Blöde Kuh!« hatte ich darunter notiert. Margo hatte mich schon damals nicht gemocht.
    Ansonsten quollen diese Seiten über von Gefühlen, weil wir bis über beide Ohren verliebt waren und durch den siebten Himmel der ersten großen Liebe schwebten.
    Ich blätterte weiter und blieb an einem Eintrag über Margo hängen. Margo hatte meine Eltern besucht, weil Charles und Hinner sich geprügelt hatten. Sie hatte darauf bestanden, dass Charles nie wieder für Leo die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen würde. Meine Eltern waren aus allen Wolken gefallen, und meine Mutter hatte Margo aus dem Haus geworfen.
    Eine Woche später war Charles tot und Leo auf der Flucht.
    Ich durchstöberte den Rest des Kartons. Ich fand vor allem Erinnerungen an Leo: mein Märchenbuch, aus dem er mir manchmal vorlas, als ich noch nicht zur Schule ging, eine Flöte, auf der er mir vorspielte, ein Bettelarmband, das er mir zur Einschulung schenkte und für das er mir zu den folgenden Geburtstagen kleine Anhänger schenkte, ein Schornsteinfeger, ein Kleeblatt, ein roter Marienkäfer mit schwarzen Pünktchen, eine grüne Schildkröte … Meine Leo-Schätze. Ich hatte jetzt keine Zeit für sie. Ich nahm das Tagebuch aus dem letzten Jahr, stellte den Karton zurück an seinen Platz und ging wieder nach oben in die Küche.
    Mein Vater stand vor der Arbeitsplatte und belegte einen aufgeschnittenen Buntbarsch mit Petersilie und Dill, träufelte Zitronensaft auf das weiße Fleisch, klappte den Fisch zu und verpackte ihn in Alufolie.
    Ich setzte mich an den Tisch und las ihm die Stelle aus meinem Tagebuch vor. Charles hatte sich mit Hinner angelegt. Für Leo.
    Adam sah von seinem Fisch auf, wischte sich die Hände an Eddies alter Schürze ab und kam zu mir. Er drehte das Tagebuch so, dass er es lesen konnte.
    »Ja, ich erinnere mich«, sagte er. »Leo hatte Hinner wohl schon mehrmals aufgefordert, Lauren nicht ständig herumzukommandieren und zu bevormunden. Eines Tages passten Leo und Charles Hinner dann angeblich ab, um mit ihm noch mal drüber zu reden. Aber Hinner lachte die beiden wohl aus. Jedenfalls hat Charles die Wut gekriegt, ist auf Hinner losgegangen, und dann haben sich die zwei geprügelt, während Leo tatenlos daneben gestanden hat.«
    »Das war doch gar nicht seine Art.«
    »Nein«, sagte mein Vater. »Aber so hat Charles es Margo erzählt. Leos Version zufolge hat Charles Hinner allein abgepasst.«
    Mir blieb fast das Herz stehen.
    »Leo hat behauptet, Charles hätte sich wegen Lauren geschlagen?«
    »Vielleicht«, sagte mein Vater.
    »Das hat er mir nie erzählt.«
    »Wir haben es dir alle nicht erzählt. Wir …«
    Er schwieg kurz und fuhr dann fort: »Deine Mutter war der Meinung, du müsstest das nicht von uns erfahren. Wenn Charles es dir sagen wollte, würde er das tun.«
    »Das tat er nicht.«
    »Nein«, sagte mein Vater. »Darüber haben sich Leo und Charles unter anderem in der Garage gestritten.«
    »Worüber?«
    »Das ist 20 Jahre her.«
    »Willst du damit sagen, Charles hatte etwas mit Lauren?«
    »Nein«, sagte mein Vater. »Das will ich nicht, denn das weiß ich nicht. Aber es ist jedenfalls ungewöhnlich, wenn sich ein Junge mit dem Bruder eines Mädchens anlegt, das nicht seine Freundin ist. Wir wollten dich nicht beunruhigen. Deshalb baten wir Leo, es dir nicht zu erzählen.«
    »Was heißt, sie hätten sich unter anderem darüber gestritten? Worüber haben sie sich in der Garage noch gestritten?«
    Mein Vater nahm meine Hände in seine großen warmen.
    »Hör zu.«
    Ich sah ihn an.
    Er runzelte die Stirn und atmete

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