Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
Vom Netzwerk:
Nachrichten in einem gleichmäßigen Rhythmus auf- und niederstemmte.
    Ich sah ihm nach und lauschte dem Knarren der Kellertreppe.
    Er würde jetzt irgendetwas auf seiner alten Werkbank sägen, bohren oder bauen, wie er es immer getan hatte, wenn er etwas mit sich selbst abmachte.

45
    Ich rief Cornelius an, den einzigen Menschen, auf dessen Freundschaft und Loyalität ich mich verließ. Ich erwischte ihn im Auto. Er war bereits auf dem Weg zu uns, und ich strahlte wie eine Hundert-Watt-Birne.
    Cornelius war bester Laune, übermütig und tiefen entspannt. Er klang, als hätte er soeben den besten Sex seines Lebens gehabt.
    Verdammt. Erst machte er mich an, und kaum wies ich ihn ab, stürzte er sich auf irgendein Mädchen mit langen Haaren und langen Beinen. Das vermutete ich jedenfalls, und prompt erlebte mein Hundert-Watt-Lächeln einen Totalabsturz.
    Schwamm drüber. Er war mein bester Freund, und das Leben ging weiter.
    »Kannst du mit Max und Chris in die Nachmittagsvorstellung von Rango gehen?«, fragte ich.
    »Kommst du nicht mit?«
    »Ich muss dringend noch mal weg.«
    »Wohin?«
    »Das geht dich nichts an. Ich frag dich ja auch nicht, wo du gerade herkommst.« Zu meiner eigenen Überraschung platzte das ziemlich schnippisch aus mir heraus.
    Cornelius lachte los, herzlich, warm und gutmütig, und sagte: »Julie, Julie. Du wirst einfach nicht erwachsen.«
    »Machst du’s oder nicht?«
    »Schon gut, ich mach’s.«
    Ich durchquerte die Innenstadt. Erleuchtete Fenster in historischen Fassaden tauchten auf und verschwanden. Vorgärten mit glitzernder Weihnachtsbeleuchtung kamen mir entgegen und glitten vorbei. Die Stadt war hübsch geworden. Viel historisches Fachwerk, viel Gründerzeit.
    Ich blickte in den Rückspiegel. Gregor Patzigs Scheinwerfer klebten an mir wie Fliegenleichen am Nummernschild. Da half nur ein Hochdruckstrahler. Leider hatte ich keinen zur Hand.
    Solthaven war nur ein Mal bombardiert worden: im Frühjahr 1945. Drei amerikanische Tiefflieger beschossen den Bahnhof. Die Unterführung zu den Bahnsteigen war eingebrochen, vom Hauptgebäude blieb nur der traurige Rest einer Seitenwand stehen, Gleise waren krachend aus dem Schienenbett gesprungen, ein Zug mit einem Truppentransport in den Osten war unter den Schmerzensschreien der Eingesperrten ausgebrannt. 311 Menschen starben bei dem Bombenangriff, darunter 72 Solthavener.
    Dass nicht mehr zerstört worden war, war ein Glück gewesen – für die Stadt, für die Einwohner und auch für Thor Langhoff, Großvater meines Sohnes und einer der großen Gewinner des Mauerfalls.
    40 Jahre DDR hatten einen Verfall der historischen Bausubstanz hinterlassen, den der Zweite Weltkrieg der Stadt nicht angetan hatte. Thor profitierte von den Aufträgen, die ihm die Instandsetzung der Gebäude nach der Wiedervereinigung eingebracht hatte: Er gab stets das beste Gebot ab, wenn es um städtische Ausschreibungen für die großen Bauaufträge ging. Seine Firma renovierte das Kloster, das jetzt die Behörden beherbergte, sanierte die alte Münze und baute die neuen Klinikgebäude. Man tuschelte seit Jahren von Korruption. Beweise gab es keine, Steuer- und Buchprüfungen liefen regelmäßig ins Leere. Langhoffs Baufirma gab es jetzt, nachdem sein Sohn Konrad sie vor zwei Jahren übernommen hatte, in der fünften Generation. Sie hatte die Nazis überlebt und die Kommunisten, und sie war eine der wenigen, die seit der Wende expandierte – Rezession hin oder her.
    Ich war auf dem Weg zu Konrad. Als ich seine Telefonnummer herausgesucht hatte, hatte ich auch die Adresse gelesen. Amtstraße 36. Konrad wohnte mit seiner Familie in seinem ehemaligen Elternhaus.
    Ich hatte mich nicht angekündigt. Vielleicht war er nicht zu Hause. Vielleicht würde er nicht mit mir sprechen und mich gleich abwimmeln.
    Die Amtstraße war eine Sackgasse mit Kopfsteinpflaster, über das mein Audi im Schritttempo holperte. Rechter Hand lag ein 300 Jahre alter Friedhof mit verwitterten Grabsteinen und einer Kapelle, in der man seit ein paar Jahren wieder heiraten konnte. Gegenüber duckten sich windschiefe Häuser unter Schnee und Eis.
    Am Ende der Sackgasse thronte Konrads Haus wie ein Bollwerk gegen die Zeit. Ich kannte es seit meiner Kindheit, und es hatte sich nicht verändert. Ein Herrenhaus mit roten Schindeln, dunklem Eichenfachwerk und weißem Putz. Eine Treppe führte zu einer dunkelgrünen Holztür mit einem Löwenkopf und drei gelben, geschliffenen Bleiglasfenstern, die das

Weitere Kostenlose Bücher