Bruderschatten
tief durch.
»Es gab Gerüchte. Charles war wohl nicht nur treu und lieb, sondern auch jung und abenteuerlustig …«
»Nein«, sagte ich. Eine Hitze wallte in mir auf, als wäre ich mitten in den Wechseljahren.
»Es war nur Getratsche.«
»Mit wem noch?«
Mein Vater runzelte noch einmal die Stirn.
»Paps.«
»Mit Claudia.«
»Wie bitte?«
»Julie, Eddie …«
Ich unterbrach ihn: »Es waren nur Gerüchte. Die gab es immer.«
Ich fühlte mich zwanzi g J ahre zurückversetzt, als wäre ich wieder 19 und als wäre das alles gerade erst passiert.
»Das hätte Charles niemals getan«, sagte ich, und Tränen schossen mir in die Augen. »Es war nur dummer Klatsch. Weißt du übrigens, was ich im Altersheim über dich und Roberta Bartels gehört habe?«
Mein Vater zog seine Hände zurück. »Es ist lange her, und deine Mutter …«
»Du leugnest es nicht einmal?« Erstaunt wischte ich die Tränen weg.
»Julie …«
»Du hast Eddie betrogen, noch dazu mit einer älteren Frau?«
»Nein, so war es nicht.«
»Ach, und wie war es dann?«
»Wir hatten eine Krise«, sagte er. »Das kommt in jeder Ehe vor.«
»Das ist noch lange kein Grund.«
»Ich hatte kein Verhältnis mit Roberta. Ich war manchmal zum Kaffee bei ihr. Roberta war eine Art mütterliche Freundin. Ich war Mitte 40, sie war 60. Du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte deine Mutter mit ihr betrogen? Roberta hörte mir zu. Das war alles.«
Ich nickte. Es leuchtete mir ein. »Warum hattet ihr eine Krise?«
Er sah mich schweigend an.
»Sie ist tot«, sagte ich. »Es kann ihr nicht mehr wehtun, wenn du es mir erzählst.«
»Deine Mutter hatte ein Verhältnis«, sagte er und schlug die Hände vors Gesicht.
»Eddie? Mit wem?«
Er schüttelte den Kopf.
»Bitte. Ich habe eine Recht darauf …«
»Nein.« Mein Vater nahm die Hände vom Gesicht. »Das hast du nicht. Das geht nur mich und deine Mutter etwas an.«
Fassungslos dacht ich an Paul Heinecken, Laurens Vater. Wie er mit meiner Mutter am Küchentisch saß und mit ihr Kaffee trank. Wie sie plauderten und lachten. Er hätte gerade etwas repariert, so hatte Eddie seine Anwesenheit erklärt. Denn Reparieren könne er wie kein Zweiter.
»Paul Heinecken?« Ein Name, der den Mund füllte, als ich ihn aussprach, und der in meinem Kopf tobte: »Sie hatte ein Verhältnis mit Paul Heinecken, nicht wahr?«
Ich klang aufgeregt, ich hörte es selbst. Und wütend. Ich war aufgeregt und wütend. Aber ich hatte auch Angst. Ich hatte die Ehe meiner Eltern wie etwas Heiliges und Unverletzbares verehrt. Sie war für mich selbst in diesem Moment noch ein Garant dafür, dass es so etwas wie lebenslange Liebe gab, dass man sie leben und erhalten konnte. Dass mein Vater und meine Mutter es gekonnt hatten. Und nun das.
»Ich bitte dich, lass es auf sich beruhen. Deine Mutter und ich haben schon vor langer Zeit unseren Frieden geschlossen«, durchdrang Adams Stimme meine Gedanken.
»Wer hat noch geglaubt, dass Charles ein Verhältnis mit Lauren hatte?«, fragte ich angespannt.
Mein Vater zuckte mit den Achseln.
Lauren hatte ihren Vergewaltiger »Daddy« genannt. Lauren und Paul? Meine Mutter und Paul? Lauren und Leo? Leo und Claudia Langhoff? Claudia und Charles? Charles und Lauren? Charles und ich?
Mir wurde schwindelig, und ich bekam kaum noch Luft.
»Wie lange lief das mit Paul?« Ich atmete tief durch.
»Etwas länger als ein Jahr.« Mein Vater war ebenso nervös wie ich. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her wie ein Kind, das die Eltern zu lange am Tisch sitzen ließen und das nichts dringender wollte als hinaus.
»Und du hast das hingenommen?«
Atmen – langsam, tief und gleichmäßig.
»Zuerst habe ich es nicht gewusst.«
»Und dann?«
»Dann habe ich sie vor die Wahl gestellt. Sie hat mir versprochen, es zu beenden.«
»Wann war das?«, fragte ich.
»Kurz bevor Leo Charles erschoss.«
»Hat sie es beendet?«
Er kratzte sich den Arm unter seiner Strickjacke wie ein Junkie, der einen Schuss brauchte.
»Sie hat es nach Charles’ Tod und Leos Flucht beendet, oder? Und keinen Moment eher«, sagte ich.
Er stand auf und verließ die Küche, und ich sah wieder nur seinen krummen schmalen Rücken. Es zerriss mich, als ich daran dachte, wie aufrecht und gerade er sich früher gehalten hatte, wie er jeden Morgen nach dem Aufstehen seine Gymnastik am offenen Schlafzimmerfenster machte, wie er abends beim Fernsehen seine Hanteln nahm, die griffbereit neben seinem Sessel lagen, und sie während der
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