Bruderschatten
Sonnenlicht an den Sommerabenden dutzendfach gebrochen zurückschickten.
Hinter dem Haus lag ein verwunschener Garten mit einem Teich, an dem eine Trauerweide ihre schlanken Äste in weiten Bögen ins Wasser fallen ließ, und mit einer sechseckigen Gartenlaube mit bodentiefen Fenstern. Es gab Wege, die sich beim ersten Grün wie dunkle Narben durch den Rasen gruben.
Gregor Patzig parkte hinter mir. Ich winkte ihm zu und zeigte auf das Haus. Er nickte.
Ich läutete an der Haustür, und eine junge Frau öffnete mir. Sie stand vor mir wie eine Erscheinung. Ihr blondes, schulterlanges Haar schimmerte seidig in der Flurbeleuchtung, die sie von hinten anstrahlte. Sie musterte mich mit hellen Augen, und ich erkannte einen kleinen Leberfleck gleich unterhalb des festen roten Mundes. Sie war in einem Alter, in dem sie sich kaum an die Ereignisse erinnern konnte, durch die Konrads Familie auseinandergebrochen war. Und sie war hochschwanger. An diesem Nachmittag lagen bläuliche Schatten unter ihren Augen, und sie sah aus, als hätte sie geweint.
Ich nannte meinen Namen. Ein kleiner Junge rief von drinnen nach seiner Mama. Sie musterte mich erneut und sagte mit schmalen Lippen, sie würde ihrem Mann Bescheid geben. Sie bat mich nicht herein. Ich hörte, dass sie Konrad rief und dass er hastig die Treppe herunterkam. Dann vernahm ich ein Flüstern.
Die Frau sagte scharf: »Das ist das Allerletzte.«
Konrad kam heraus, packte mich am Arm und zog mich durch den Vorgarten nach hinten in den Innenhof.
»Bist du verrückt, hier unangemeldet aufzutauchen?«
Ich sah die Silhouette seiner Frau im Küchenfenster, die Hände in die Hüften gestemmt – eine Schwangere, die kaum noch stehen konnte.
»Das geht so nicht.« Er stand mir gegenüber und sah mich an. »Ich habe die halbe Nacht mit meiner Frau gesprochen. Sie ist völlig fertig, dass ich einen Sohn habe. Du musst uns Zeit lassen.«
»Es geht nicht um Max«, sagte ich. »Du musst für mich Akten beschaffen.«
Er stutzte: »Akten?«
»Aus dem Krankenhaus. Und aus dem Polizeirevier. Ich brauche die Originale der Obduktionsberichte von deiner Schwester und Charles. Hast du den über Claudia jemals gelesen?«
Die Sätze sprudelten aus mir heraus.
Er schüttelte den Kopf. »Wieso sollte ich? Wieso willst du sie lesen?«
»Ich muss wissen, ob sie in Claudias Leiche Spermaspuren von Leo oder Charles gefunden haben. Irgendwer nimmt mich gerade gewaltig auf den Arm. Ich brauche außerdem Kopien von Kortners alten Akten zu dem Mord an Charles und an Claudia. In beiden Fällen hat er sie manipuliert. Vielleicht finde ich in den Unterlagen Hinweise darauf.«
»Kortner?«
Ich nickte.
»Aber die Ermittlungsakten zu Margo und dieser jungen Frau willst du nicht zufällig, oder?«
»Alle, wenn es geht.«
Er schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil du ein anständiger Mensch bist und weil ich wissen muss, mit wem deine Schwester vor ihrem Tod geschlafen hat.«
»Man bricht nicht einfach in ein Polizeirevier oder in ein Krankenhaus ein. Die sind 24 Stunden besetzt. Ich sag’s dir noch einmal. Ich werde mich nicht daran beteiligen, Leos Unschuld zu beweisen. Ich habe eine Familie, und die braucht mich. Ich will nicht noch mal im Knast landen, schon gar nicht für Leo. Kannst du das verstehen?«
»Gut«, sagte ich. »Dann werde ich mit deinem Vater sprechen.«
»Das wirst du nicht.« Er packte mich am Arm.
»Doch«, sagte ich. »Jemand muss mir helfen. Jemand mit Mumm und Macht. Jemand, der keine Skrupel kennt.«
»Du hast einen Polizisten im Schlepptau, oder hast du das noch nicht bemerkt? Man kann ihn auf 100 Meter Entfernung erkennen, so stümperhaft, wie der sich im Wagen zusammenkauerte, als ich aus dem Haus kam.«
»Er ist jung. Außerdem überwacht er mich nicht, sondern er passt auf mich auf. Und ich kann ihn jederzeit abschütteln.«
»Sei nicht naiv. Du kannst keinen Schritt tun, ohne dass er ihn kennt. Du meinst doch nicht im Ernst, dass irgendjemand aus meiner Familie unter diesen Umständen etwas für dich tut.«
»Dein Vater hat seine Leute. Die hatte er schon immer.«
»Mein Vater ist nicht mehr derselbe wie früher.«
»O doch«, sagte ich. »Und er wird mir helfen. Er hat mich immer gemocht, und er wird der Mutter seines Enkels nicht abschlagen können, ihr zu helfen. Er wird mir glauben, dass ich herausfinden möchte, wer seine Tochter umgebracht hat. Wenn es Leo war, dann werde ich Leo finden, und er wird dafür büßen, glaub mir.
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