Bruderschatten
und gegart. Den ganzen Winter über stürzte sich mein Vater jeden Sonntagvormittag auf Rehrücken, Rehkeulen, Rehbraten. Manche hatte er bereits am Abend zuvor mariniert und servierte uns zum Mittagessen Reh mit Orangensoße, Reh mit Rotweinsoße, Reh mit Birnen, Reh mit Preiselbeeren.
Der Raum dahinter war unsere frühere Waschküche mit einer emaillierten Wanne, in der Eddie das Wild abgezogen und zerlegt hatte. An der unverputzten weiß gekalkten Wand darüber hingen ein Dutzend Geweihe, unter denen sie kleine Schildchen angebracht hatte mit dem Jahr, dem Ort und dem Alter des erlegten Tieres. An einer anderen Wand türmten sich mit schwarzen Filzstiften beschriftete Umzugskartons, in denen sie altes Zeug eingelagert hatte: Kinderspielzeug, Zeugnisse, Andenken, ausrangiertes Porzellan, alte Pullover und Jacken, die sie vielleicht noch zum Jagen, Malen oder für die Gartenarbeit verwenden konnte.
Mein Karton mit der Aufschrift »Julie« stand genau dort, wo er hingehörte, ganz oben in einer Reihe mit anderen. Ich stieg auf eine Trittleiter und wuchtete ihn herunter. Staub wirbelte auf. Ich wischte mir die Hände an der Jeans ab.
Charles’ blaues Sweatshirt lag zuoberst, quer darüber ein grüner Streifen Mottenpapier. Ich nahm es und roch daran. Es roch wie Dinge, die jahrelang in Kellern lagerten – muffig. Ich legte es zur Seite und fischte »unser Album« hervor. Fotos von Faschingsfeiern, Klassenfahrten, Schnappschüsse von sonnigen Nachmittagen im Park, von verschneiten Vorgärten. Und immer Charles und ich. Manchmal auch noch mit Leo. Charles’ Ansichtskarten aus den Sommerurlauben mit Margo, kleine Zündholzbriefchen mit lustigen Botschaften, Bieruntersetzer mit Zeichnungen, Cocktailspieße mit kleinen Notizen daran. Es war eine Zeit gewesen, in der ich alles gesammelt hatte, was Charles und mich verband. Ich konnte es nicht ansehen, ohne dass der Vorhang, hinter dem ich meine Erinnerungen verbarg, löchrig wurde und mein Herz freilegte, das noch immer von Narben durchzogen war, an denen ich besser nicht rührte.
Ich hätte Charles gern eine Karte gezeigt und gefragt: »Erinnerst du dich, Liebling?«, »Weißt du noch …?« Er würde lächeln, mit seinen schlanken Händen nach den Fotos greifen, sie mit mir betrachten und seine Erinnerung dazu erzählen. Wir säßen im Keller unseres Hauses oder auf unserer Terrasse oder im Wohnzimmer an unserem 20. Hochzeitstag bei einem Glas Champagner, nachdem die letzten Gäste verabschiedet waren.
Er fehlte mir immer noch.
Es gab Erinnerungen wie die an meinen ersten Schultag und die riesige Schultüte oder an meinen ersten Sprung vom Fünf-Meter-Turm im Freibad, die mich lächeln ließen. Doch die Erinnerungen an Charles weckten neben Trauer und Schmerz auch jetzt noch Sehnsüchte, und das begann mich zu ängstigen. Als würde meine Sehnsucht nach ihm mir nicht erlauben, noch einmal mit einem anderen Mann glücklich zu sein. Als würde sie wie eine undurchdringliche Mauer vor mir stehen und mich daran hindern, in der Gegenwart zu leben, was ich doch beharrlich zu tun glaubte. Es konnte durchaus sein, dass Alex es besser gewusst und entschieden hatte, sich dem nicht auszusetzen.
Charles’ Freundlichkeit, seine Aufmerksamkeit, seine Aufrichtigkeit und seine Unschuld – das war unwiderruflich vergangen. Doch niemand könnte mir jemals einreden, dass Charles mich betrogen hatte. Das war unmöglich. Lauren hatte gelogen, als sie Charles als Vater angegeben hatte, und ich konnte es ihr nicht einmal verdenken. Denn als sie die Zwillinge zur Welt brachte, suchte die Polizei Leo bereits seit Monaten wegen Mordes. Doch wie konnte Lauren glauben, dass er ein Mörder war? Sie hatte mit ihm geschlafen. Es sei denn, sie log auch dieses Mal und auch Leo war nicht der Vater. Nur wer war es dann? War es »Daddy«?
Ich suchte meine Tagebücher. Sie lagen ganz unten in dem Karton, sechs an der Zahl und mit einem roten Schleifenband zusammengehalten. Ich hatte begonnen, sie zu schreiben, als ich 13 war. Ich benutzte Kalender, die mein Vater mir aus der Praxis mitbrachte. Eine Seite für jeden Tag. Die Umschläge waren aus festem, hellbraunem Karton. Jede Seite war vollgeschrieben, anfangs mit Bleistift, später mit einem Füller. Für die letzten Einträge hatte ich einen Kugelschreiber verwendet, ein Symbol für das Erwachsenwerden, denn Kugelschreiber durften wir in der Schule nicht benutzen. Es hieß, sie würden die Schrift verderben.
Die Bleistifteinträge waren
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