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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Erkennungszeichen hielt er dennoch den blaßgelben Stengel eines wilden Sellerie in der
    Faust. Mir fiel noch etwas auf, als ich zu ihm rüberhumpelte:
    daß sein Gesicht nämlich besonders häßlich und abstoßend

    wirkte an diesem Nachmittag – was höchstwahrscheinlich an
    den aus Elfenbein geschnitzten Hautpflöcken lag, die er an den Mundwinkeln trug (wo sonst nur diese wulstigen Inseln
    saßen). Bei näherem Hinsehen sahen sie aus wie kleine
    Eisbären.
    »Viel Platz hier«, sagte ich.
    Henrys Blick sprang an den Himmel und von da zu den
    nahen Bergen, soweit sie zwischen Wolken- und Nebelfetzen
    zu sehen waren. »Ja«, sagte er, »aber an klaren Tagen sieht
    man mehr davon.«

    Ein russischer Aleute namens Dorofey Golodoff – Henry
    nannte ihn Fego – flog uns in seinem klapprigen Kleinflugzeug
    nach Nikolski, einem aleutischen Dorf auf Umnak, wo mein
    Vater im Krieg stationiert gewesen war. Fego wohnte in der
    Nähe von Nikolski in einem Barabara, einem halb
    unterirdischen und mit Grasnarbe gedeckten Haus, das mich
    gleich an Henrys Unterschlupf in jenem Seitenarm des
    Tholocco-Creek in Alabama erinnerte. Wir übernachteten bei
    Fego; er war ein stämmiger, asiatisch aussehender Mann mit
    breiter, eingedrückter Nase und langem pechschwarzem Haar.
    Ich war zwei Zoll größer als er, doch er war mindestens vierzig Pfund schwerer als ich, obgleich er sich so flink und behende
    wie ein Otter bewegte. Zum Abendessen bewirtete er uns mit
    dampfgegarten Muscheln, in Eierteig gebackenem Seepolyp
    und einem Salat aus Seetang, Wildzwiebeln und Fox-Islands-
    Sellerie.
    Beim Essen sagte Fego: »Wenn das Wasser geht, ist der
    Tisch gedeckt.« Es kam nicht viel über seine Lippen, und von
    dem, was er sagte, ist mir nur dieses aleutische Sprichwort in Erinnerung geblieben, welches erklärt, wie diese abgehärteten
    Leute an so einem fürchterlichen Ort bestehen können. Fego

    bezog allerdings noch ein Salär von den Vereinigten Staaten
    für seine Funktion als Zollaufseher und Reserve-Postflieger,
    und am nächsten Tag flog er uns nach Attu, dem äußersten
    Zipfel der Inselkette; es blieb bei einer einzigen
    Zwischenlandung auf dem Marinestützpunkt der Insel Adak,
    nicht ganz in der Mitte zwischen Umnak und Attu, um etwas
    abzuliefern und aufzutanken.
    Zum Glück, sonst wären wir nicht geflogen, war und blieb
    der Tag klar – keine Nebel oder Wirbelböen, wie sie aus dem
    Zusammentreffen des Beringmeers mit der wärmeren
    Kuroschio-Strömung entstehen konnten – nur ein leichter
    zinnfarbener Wellenschlag unter dem hohen Greinen von
    Fegos Propellermaschine.
    Auf Attu ging es zu Fuß von der Massacre-Bay landeinwärts
    auf die Berge im Westen zu. Fego kam nicht mit. Die meiste
    Zeit marschierten wir durch feinen Nieselregen, der am späten
    Nachmittag in leichten Schneefall überging; meine
    Verletzungen meldeten sich mit einem nagenden Geschwader
    kleinerer und größerer Wehwehchen zu Wort und ließen mich
    mehr denn je humpeln.
    In einer japanischen Baracke, die die vier Jahre
    zurückliegende US-Invasion heil überstanden hatte, suchten
    wir Schutz vor dem Schnee, der chronischen gespinstartigen
    Nebligkeit des Tages und den Schmerzen, die sich in meinen
    Beinen eingenistet hatten. Im Abfall der Baracke fand ich eine leere Sake-Flasche, ein halb verbranntes Tagebuch mit
    japanischen Schriftzeichen und zwei Paar von der Witterung
    verzogene kurze Skier. Wir aßen aus Büchsen, die wir im
    Rucksack mitgenommen hatten.
    »Henry, was machst du an diesem gottverlassenen Flecken
    Erde?« fragte ich zwischen zwei Löffeln voll Schweinegulasch
    und Bohnen.
    »Dich zum Grab deines Vaters führen.«

    »Sonst, meine ich. Bist du hier wieder raufgekommen, weil
    du hier leben willst? Als der Eskimo-Mann, der sich versteckt, dieser…?«
    »Injukutak.«
    »Ja, dieser Injukutak. Willst du für immer der ›Mann, der
    sich versteckt‹, sein?«
    »Ich bin kein Aleute. Für immer würde ich mich nur unter
    den Inuit auf dem Festland verstecken, nicht auf dieser vom
    Unwetter gebeutelten Inselkette.«
    »Hast du das vor? Dich für immer verstecken?«
    »Das ist ein vorübergehendes Exil, Daniel, nur eine
    Erholungsphase. Ich möchte mich erneuern. So build we up the Being that we are, um es mit Wordsworth* zu sagen. Doch ich verzweifle an der Authentizität meines Materials.« Er entfernte die Mundpflöcke und steckte sie fort, als könnten sie ihn
    morgen auf unserem Marsch stören. Von da an und für den
    Rest des Abends

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