Brüchige Siege
ausstehen.
Als die schwerfällige Hälfte des ersten Innings* getan war
und die Mannschaften mit indifferenten Mienen die Plätze
tauschten, da sagte ich: »Mr. Boles, Sie sind ein
anspruchsvoller Mann, wenn es um neue Talente geht.«
Er sah mich mit verengten Augen an, als hätte ich ihn mit
einem Stock gepiekst.
»Wenn da nicht Kit Carson gestanden hätte«, sagte ich mit einer Geste in Richtung Parkplatz, »ich wär bestimmt
weitergefahren. Das ist das traurigste aller traurigen Nester, die ich in den letzten fünf Tagen besucht habe.«
Boles Augen entspannten sich, sie wurden ein, zwei
Nummern größer, jede Iris ein winziges Zahnrädchen. Die
Aprilsonne schien von hinten durch seine Segelohren. Auch
wenn er so aussah, als könne man ihn mit einer Spargelstange
erschlagen: Boles flößte mir Angst ein. Wieso? Die
grellbunten Hemdsärmel reichten bis an die Ellbogen und
verliehen ihm das Aussehen eines zerbrechlichen Gnoms mit
schlechtem Haarschnitt Vielleicht war es sein Ruf, der mich
einschüchterte, oder die Härte von Feuerstein in den eng
stehenden Augen.
Beinah gleichgültig wandte Boles den Blick ab. Ein
Pitcherwechsel* während des Innings fesselte
seine
Aufmerksamkeit. Ein langarmiger schwarzer Junge mit den
Oberschenkeln eines Schlußmanns beim Football betrat den
Pitcherhügel und warf sich beim Aufwärmen in Weißglut.
Leider, mit einem Schlagmann an der Plate, waren die Würfe
dann zu hoch, zu weit außerhalb oder landeten im Dreck. Er
schenkte den ersten zwei Schlagmännern einen Walk, warf
einen wild schwingenden Schlagmann ›aus‹, verschenkte den
dritten Walk, warf noch einen Schlagmann durch ein Dutzend
Würfe ›aus‹ (darunter etliche, die einen sicheren Walk
bedeutet hätten, wenn der Schlagmann sie ignoriert hätte) und
verlor endgültig die Kontrolle, als ein knapp über das Infield*
geschlagener Ball bis zum rechten Centerfield-Zaun rollte und
den Gegner zwei Bases weiterbrachte. Der nächste Wurf traf
den Schlagmann zwischen die Rippen, der Junge schritt auf
dem Hügel herum, schimpfte und peitschte sich immerzu den
Handschuh ans Bein.
»Wenn er sich nur ein bißchen in der Gewalt hätte«, sagte
ich.
Mit einem Zeichen gab der Manager dem Rightfielder und
dem wütenden schwarzen Jungen zu verstehen, die Plätze zu
tauschen.
Jetzt erst sah Boles mich wieder an. »Genau da hätte er erst mal spielen sollen. Wenn der Junge ein Pitcher ist, dann stellt Incredible Hulk Servietten her.«
Wiewohl sein Blick mich versengte, setzte mir seine Stimme
am meisten zu. Ich hatte vergessen, daß man ihn vor Jahren an
Kehlkopfkrebs operiert hatte; Boles hatte keine Stimmbänder
mehr. Er redete mit Hilfe einer Verstärkeranlage, das
schnurlose Mikrophon hielt er über dem Adamsapfel an den
Hals. Die Stimme aus dem Verstärker war leidlich zu
verstehen, aber sie klang mechanisch. Hörte man ihm zu, hatte
man das Gefühl, sein Gesicht sei nur eine Gummimaske, um
das metallene Konterfei und den künstlichen Sprechapparat
eines Roboters zu kaschieren.
»Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?«
»Pardon, Mr. Boles.« Ich faßte mir ein Herz. »Ich bin
Sportreporter.«
»Ach ja? Für wen?«
»Columbus-Blatt. Columbus, Georgia.«
Boles nickte und steckte das Sprechgerät weg.
»Vor ein paar Wochen hab ich bei Ihnen in Atlanta
angerufen«, sagte ich. »Es geht mir um eine ausführlichere
Biographie. In Buchlänge. Ihre Frau wollte meine Nachricht
weiterleiten. Sie gab mir den Rat, inzwischen nach Ihnen
Ausschau zu halten, bei High-School-Spielen hier im
Chattahoochee Valley. Sie meinte, wir sollten das Projekt von
Mann zu Mann bereden.«
»Sir«, fügte ich hinzu.
Boles legte den Finger an die Lippen. Dann fuhr der Finger in
einer jähen Bewegung an die meinen. Er war nicht hier, um zu
konferieren; wenn ich seine Kooperation wollte, hielt ich jetzt besser den Mund. Nach der Wertungstafel im Rightfield waren
vier Innings gespielt. Wie viele Innings hatten High-School-
Spiele? Sieben? Neun?
Trotz Windjacke und Wollhosen fror ich mir eine Gänsehaut
mit mammutgroßen Brubbeln, derweil Boles, gebräunt und zäh
in seinem Hawaiihemd, für weitere vier bis sechs Innings
gewappnet schien.
Zu meiner Überraschung wartete er nur noch zwei schwache
Ground-outs* ab, dann löste er sich vom Zaun, winkte mir,
ihm zu folgen, und humpelte in Richtung Parkplatz. Er sah sich nicht mehr um. Ungeachtet der hakelnden Gangart, kam er
zügig voran. Er
Weitere Kostenlose Bücher