Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
den Teppich, als er die Treppe hinaufrannte. Er wollte schon die Tür zu Hannahs Zimmer öffnen, hielt aber inne, denn er hörte, dass sie mit jemandem sprach. Ihre Stimme war gedämpft, und er konnte nichts verstehen. Bestimmt war es Frieda.
Atemlos versuchte Avi, sich zu beruhigen. Da ihm plötzlich einfiel, dass er vermutlich zum Fürchten aussah, fuhr er sich mit den Fingern durchs nasse Haar. Dann klopfte er an.
Hannah verstummte schlagartig. Eine Pause entstand. Im nächsten Moment ertönte ein Poltern, und etwas fiel zu Boden.
»Hannah?«, fragte Avi. »Ist alles in Ordnung?«
»Bestens«, rief sie. Sie klang nervös. »Einen Moment.«
»Da stimmt doch etwas nicht«, protestierte er. »Ich komme jetzt rein.« Er berührte den Türknauf.
»Nein. Warte.«
Er machte die Tür auf.
Hannah hatte sich, eine Ausgabe von Die Feenkönigin in der Hand, auf der Fensterbank niedergelassen. Sie wirkte zwar, als könne sie kein Wässerchen trüben, atmete jedoch schwer, und Avi merkte ihr an, dass sie sicher noch nicht lange dort saß.
»Was ist los?«, erkundigte er sich.
»Nichts«, erwiderte sie. Trotz ihrer Unschuldsmiene war ihr Gesicht genauso rot wie ihr T-Shirt.
»Du hast mit jemandem geredet.«
Demonstrativ schaute sie sich im Zimmer um. »Avi, hier ist niemand. Was ist denn eigentlich mit dir passiert? Du siehst aus, als wärst du durch den Ärmelkanal geschwommen.«
Im Schrank rumpelte es, worauf Hannah einen schuldbewussten Blick auf das Möbel warf. Avi schluckte und traute seinen Augen nicht. Liebhaber, die sich im Schrank versteckten, waren doch Stoff für schlechte Komödien, nicht für das wirkliche Leben. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt-gemacht und wäre hinausgegangen. Aber er musste es wissen …
Zwei lange Schritte brachten ihn zum Schrank.
»Bitte nicht, Avi«, flehte Hannah.
Mit einer heftigen Bewegung und zum Zuschlagen bereit, riss er den Schrank auf.
Er war leer.
Das hieß, es befand sich kein Mensch darin. An der Kleiderstange hingen Hannahs umfangreiche Jeanssammlung, noch mehr Jeans und Lederjacken. Avi verstand die Welt nicht mehr. Irgendetwas oder irgendjemand musste dieses Geräusch schließlich verursacht haben.
»Ich kann dir alles erklären«, begann Hannah, während Avi zwischen ihr und dem Schrank hin- und hersah.
Ein seltsamer Geruch stieg ihm in die Nase. Nach Tier. Scharf und lebendig. Er erinnerte Avi an …
»Der Zoo«, murmelte er.
Als eine der Jacken erzitterte, schnappte Avi nach Luft und wich zurück. Etwas Schwarzes sprang von der Kleiderstange auf den Boden des Schranks. Im nächsten Moment war es nicht mehr schwarz, sondern braun. Das Lebewesen huschte aus dem Schrank auf den dunkelgrünen Teppich, wo es sich grün verfärbte. Beim Überqueren des Läufers wurde es weiß, danach wieder grün, ehe das Geschöpf einen Satz auf Hannah zu machte.
Avi schrie auf, aber Hannah ließ nur ihr Buch fallen und breitete die Arme aus, um das Tier aufzufangen. Es landete an ihrer Brust und kuschelte sich leise schnurrend an sie. Inzwischen war es genauso rot wie Hannahs T-Shirt.
Avi kam näher. Wegen seiner Tarnung war das Geschöpf schwer auszumachen, doch als plötzlich ein Sonnenstrahl durch die Zweige des Apfelbaums vor dem Fenster schien und es beleuchtete, konnte Avi es erkennen.
»Das Pennapor!«, rief er.
»Das was?«, fragte Hannah.
Soweit Avi sich erinnerte, war er bis jetzt erst einmal einem Pennapor begegnet, und zwar im Feenreich. Dieses hier sah ein wenig anders aus, nicht so sehr wie ein eigenständiges Geschöpf, sondern eher wie eine Kreuzung aus verschiedenen Tieren. Es hatte einen kurzen Schnabel, Flügel wie ein Vogel, die im Moment ordentlich gefaltet waren, und dazu einen Fischschwanz. Sein glatter, stromlinienförmiger Kopf wies große, spitze Fledermausohren auf. Aber noch während Avi es beobachtete, veränderte es seine Form, und seine Konturen wurden weicher. Der Schnabel schrumpfte, so dass das Gesicht menschlicher wirkte und Hannah sogar ein wenig ähnelte. Als Hannah es streichelte, schnatterte es abwechselnd wie ein Delphin oder schnurrte wie eine Katze.
Die Sonne versteckte sich wieder hinter einer Wolke. Jetzt, da Avi vom Vorhandensein des Pennapors wusste, fand er allerdings, dass es nicht zu übersehen war. Es gelang ihm nicht, den Blick von seinen großen, feuchten Augen abzuwenden, und er überlegte, ob es ihn womöglich gerade hypnotisierte.
»Por-pop«, verkündete das Pennapor, wobei es das Pop am Ende durch ein
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