Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
Feenreich gibt es keine Autos, dachte er ein wenig wehmütig.
»Avi!«, rief eine rauhe Stimme von unten. »Beweg deinen Hintern! Du bist mit dem Teekochen dran!«
Ein farbenfrohes Aufblitzen, und der Schmetterling war fort.
Avi blickte hinab und stellte fest, dass Eric, der Polier, zwischen Sandhaufen und Stapeln aus Backsteinen hindurch auf die Hütte zusteuerte, die in einer Ecke der Baustelle stand. Von Avis Ausguck, vier Stockwerke hoch auf einem Gerüst, wirkte Eric sehr klein.
Avi holte tief Luft. Die verschiedensten Gerüche schwebten in der Luft, was er als eigenartig angenehm empfand. Es waren die Gerüche des Reichs der Sterblichen: Abgase, gebratene Zwiebeln und heißer Teer. Es wunderte ihn, welche Geborgenheit sie ihm vermittelten. Das hier war jetzt sein Zuhause, und er bereute seine Entscheidung nicht. Außerdem wäre ihm angesichts der Umstände ohnehin nichts anderes übrig geblieben.
Warum also wurde er dann das Gefühl nicht los, dass etwas entsetzlich im Argen lag?
Avi streckte sich und kletterte die Leiter hinunter. Weil er den ganzen Vormittag lang Steine geschleppt hatte, waren seine Muskeln verkrampft, so dass er sich trotz der malerischen Aussicht vom Gerüst auf das Ende der Plackerei freute.
Auch wenn ihn manchmal der Muskelkater plagte, arbeitete er gern auf der Baustelle. Die Tätigkeit war anspruchslos und dennoch befriedigend und außerdem ohnehin das Einzige, was er in seiner Lage hatte bekommen können. Denn ihm fehlten nicht nur eine Ausbildung, sondern auch Pass oder Geburtsurkunde, weshalb es ihn offiziell eigentlich gar nicht gab.
Zum Glück hatte Eric nichts dagegen, ihm seinen Lohn jeden Abend in bar auszuzahlen, ohne Fragen zu stellen. Anschließend ging Avi stets erschöpft, aber guter Dinge nach Hause, wohl wissend, dass er wegen der harten Arbeit tief und fest schlafen würde, was einen Alptraum weniger wahrscheinlich machte.
In der Hütte kochte bereits das Wasser im Teekessel. Avi goss es auf die billigen Teebeutel, während Eric und die anderen sich über eine Zeitung beugten.
»Die sind nicht echt, da bin ich ganz sicher«, verkündete Patrick, ein hünenhafter Ire, dessen Bizeps den Umfang einer Bowlingkugel hatte.
»Für mich sehen sie echt aus«, widersprach Donny. Mit seinen sechzehn Jahren war er ein Jahr jünger als Avi. Er schien ständig in sich hineinzukichern und war so mager, dass man ihm den schwarzen Gürtel in Judo nie zugetraut hätte.
»Fälschung«, lautete Erics Urteil. »Was meinst du, Avi?«
Als er die Zeitung hochhielt, rechnete Avi eigentlich mit dem Foto einer jungen Frau, die höchstens einen Bikini, vermutlich jedoch eher gar nichts anhatte. Doch zu seiner Überraschung drehte sich die Debatte um einen verwackelten Schnappschuss, der zwei alte Segelschiffe zeigte. Sie schaukelten im seichten Wasser vor einer anmutigen Hängebrücke.
»Äh, ich denke, das sind Schiffe«, erwiderte Avi.
»Aber ist das Foto gefälscht? Du weißt schon, retuschiert oder mit Photoshop bearbeitet oder wie man das heutzutage eben so macht.«
Avi verteilte die Teetassen. »Keine Ahnung. Was steht denn in dem Artikel?«
»Hier heißt es«, antwortete Patrick und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang, »dass zwei Fünfmastbarken – was das auch immer sein soll …«
»Na, Schiffe eben«, sagte Donny.
»Das weiß ich selber. Jedenfalls sind diese Schiffe letzte Nacht an der Albert Bridge aus der Themse aufgestiegen. Das Merkwürdige daran ist, dass niemand sie vorher bemerkt hat. Und noch merkwürdiger ist, dass sie fast vollständig erhalten sind. Man geht von einem Scherz aus.«
»Wenn du mich fragst, ist das ganze Foto ein Scherz«, entgegnete Eric.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, wandte Donny ein. »In den Nachrichten heute Morgen hieß es, das Wasser unter der Brücke sei von einem Ufer zum anderen zugefroren gewesen, so wie früher. Klar, damals gab es eine kleine Eiszeit, aber das ist doch verrückt.«
»Was hat denn das bisschen Eis mit den Segelschiffen zu tun?«, erkundigte sich Patrick.
»Ich sage nur, dass es komisch ist«, erwiderte Donny. »Was hältst du davon, Avi?«
Bevor er antworten konnte, rief jemand seinen Namen. Ein schlankes Mädchen in zerrissenen Jeans stand am Eingang der Baustelle und schwenkte eine rosafarbene Handtasche aus Leder. Avi bekam Herzklopfen. Seltsam, dass das noch immer geschah. Er winkte Hannah zu.
»Wer ist das?«, fragte Eric, während Patrick die Finger in den Mund steckte und einen Pfiff
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