Brüder der Drachen
vermeintlichen Wesen in Dunst auf, bis Jandaldon endlich klar die Umrisse eines Menschen erkennen konnte. Denn ein Mensch war es offenbar – ein Mann, der in zerschlissene Kleidung gehüllt war und mit schleppenden Schritten seines Weges ging. Doch er erschien wie tot, mit Augen, in denen kein Funke des Lebens glomm. Sie gingen aneinander vorüber, und der starre Blick des Fremden hielt Jandaldon davon ab, sich weiter zu nähern oder zu grüßen. Er fragte sich, ob dies auch sein Schicksal sein würde – als wandelnder Toter auf ewig durch dieses Reich zu irren.
Ohne zu wissen, in welche Richtung er sich bewegte, ob es überhaupt Richtungen gab in dieser Welt, setzte er seinen Weg fort, immer weiter durch das graue Zwielicht. Tief in ihm keimte jedoch die fatale Erkenntnis, dass er nicht ewig so weitergehen konnte. Obwohl er weder Hunger noch Durst verspürte, erlahmten seine Glieder in einer Erschöpfung, die ihn mehr und mehr verzehrte. Plötzlich strauchelte er und stürzte. Sein Gesicht berührte für einen Moment den Boden, der formlos und kalt war wie der Rest dieses Landes, in dem er gefangen war. Als er wieder auf seine Füße kam, strich er mit einer Hand durch sein Gesicht, und er fühlte einen zähen Schleim, mit dem er sich besudelt hatte. Bevor sie in Ul’urs Reich geraten waren, hatten sie ein Land voller Sümpfe und Tümpel durchwandert. Die seltsame blassgraue Substanz an seinen Fingern sah allerdings nicht aus wie das abgestandene Wasser des Sumpflandes. Nachdenklich schüttelte Jandaldon seinen Kopf. Er ahnte, dass es ihm nicht gelingen würde, Ul’urs Welt zu verstehen – dennoch begriff er, dass er hier sterben würde, wenn nicht irgendein Wunder geschah.
Plötzlich trat ein Lächeln auf seine Lippen, und er griff nach dem Bündel, das über seiner Schulter hing. Ein Lied würde diesen Ort der Verzweiflung erhellen wie ein Licht die Finsternis der Nacht. Gerade wollte er seine Laute aus dem Lederbeutel hervorziehen, als seine Finger ertasteten, dass deren Hals zerbrochen war. Jandaldon war es, als würde ein Blitzstrahl sein Herz durchzucken, während sein Blick sich auf das zerstörte Instrument senkte. Die keimende Zuversicht erstarb jäh. Es würde kein Lied geben, keinen Schimmer der Hoffnung. Schon holte der Sänger aus, um die Laute von sich zu schleudern, doch dann hielt er inne und schob das Instrument zurück in seine Hülle. Dabei fühlten seine Finger einen kleinen Stoffbeutel, den er schon fast vergessen hatte. Jandaldon öffnete das Säckchen und sah die vertrockneten Inglaar-Früchte, die er vor einigen Wochen gepflückt hatte. Und wider alle Vernunft entzündete sich in seinem Herzen erneut eine Flamme der Hoffnung. Als er diese Früchte gefunden hatte, war er auf der Suche nach dem Tod gewesen, trotzdem hatte er sie mit sich genommen ohne jede Hoffnung, sie Tirandor je geben zu können. Und nun gab er sich selbst ein Versprechen: Er würde leben, und er würde Tirandor wiedersehen. Vorsichtig schob er die Früchte in die Umhüllung der Laute, und mit einem grimmigen Lächeln setzte er seinen Weg fort.
*
Stunde um Stunde bahnten die Gefährten sich ihren Weg durch den toten Wald. Sie waren nun eine große und gut bewaffnete Gruppe, denn Melia hatte sie noch am Abend des letzten Tages ihren Begleitern vorgestellt. Es war eine Überraschung für Danira gewesen, dass der Anführer der kleinen Schar ein junger Priester war, der ein kriegerisches und verwegenes Äußeres besaß. Neun Männer aus der Seestadt waren seine Begleiter, auch sie zumeist noch sehr jung, und sie trugen Waffen und Rüstungen, die wahrscheinlich wesentlich älter waren als sie selbst. Die rostigen Kettenrüstungen, zerschlissenen Lederpanzer und schartigen Schwerter waren offenbar Erbstücke aus lange vergangenen Zeiten. Die betretenen Gesichter der Männer ließen erahnen, dass sie keine Kampferfahrung besaßen und durch ihre Begegnung mit Ul’ur bereits den größten Teil ihres Tatendranges eingebüßt hatten. Immerhin waren einige unter ihnen mit langen Bogen bewaffnet und trugen Köcher mit bunt gefiederten Pfeilen auf den Rücken, und es stand zu hoffen, dass sie zumindest damit würden umgehen können. Jeweils zwei Männer ritten gemeinsam auf einem Craith, und auch die Echsen bewegten sich vorsichtig und bedächtig, als sei die Furcht vor Ul’ur noch nicht von ihnen gewichen.
Immer wieder bemerkte Danira, dass einige der Männer zu Selina und auch zu ihr selbst blickten, doch es war ihr
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