Brüder Des Zorns
Entsetzen. Liebe und Verzweiflung hatten sie so weit gebracht, aber was sollte sie jetzt tun? Dort unten herrschten Zügellosigkeit und Gewalt. Die Männer genossen die ungebändigte Zerstörungswut nach dem Sieg. Was konnte eine einzelne Frau schon ausrichten? Würde sie lange genug leben, um Ansa zu finden?
Fyana schloss die Augen und holte tief Luft, um sich zu sammeln und ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. Ihre Ängste, wie begründet sie auch waren, brachten sie nicht weiter. Gasam und Larissa würden Ansa in ihrer Nähe behalten, wenn er noch lebte. Sie musste das königliche Zelt ausfindig machen. Fyana öffnete die Augen. Es war sinnlos, hier zu warten. Sie trieb das Cabo an und ritt auf die Feuer zu.
Der Ruf eines Wächters drang an ihr Ohr, ehe sie die Stadt erreichte. Mit einer Fackel in der Hand kam er näher. Der Soldat war recht klein und trug eine weiße Tunika und einen beinernen Brustpanzer. Auf dem Lederhelm funkelten Metallspitzen.
»Wer bist du?« fragte er.
»Lady Fyana aus der Schlucht. Ich will mit der Königin reden.« Sie beschloss, sich selbstbewusst und gelassen zu geben.
Der Mann riss erstaunt den Mund auf. »Die Königin? Warte hier!« Er lief zu seinen Kameraden zurück. Unruhig wartete Fyana ab. Von überall her drangen grässliche Laute an ihr Ohr: Schluchzen, Jammern und hin und wieder Schreie. Nach einer scheinbar unendlichen Zeit kehrte der Mann mit einem Offizier zurück, der eine kostbare Rüstung und einen Bronzehelm trug.
»Was willst du hier?« erkundigte er sich.
»Ich will Königin Larissa sehen. Die Angelegenheit geht dich nichts an.« Er sah wie ein Berufssoldat aus, und sie hoffte, ihn mit ihrer Überheblichkeit zu beeindrucken. Ein gebürtiger Edelmann wäre nicht darauf hereingefallen.
»Das Lager ist bei Nacht ein gefährlicher Ort, werte Dame«, sagte er respektvoll. »Manche Soldaten vergessen sich während der Siegesfeiern, wenn ihre Vorgesetzten sie nicht im Auge behalten. Es ist besser, wenn du bis zum Morgen hier bleibst. Bei Tageslicht benehmen sie sich nicht so leicht daneben.«
»Ich muss aber sofort zur Königin!« beharrte Fyana, denn sie befürchtete, ihr Mut würde sie verlassen. Sie dachte: danebenbenehmen! Was für ein Wort, wenn man bedachte, was die Männer taten! »Sicher kannst du mir eine Eskorte mitgeben, Hauptmann! Ganz bestimmt wird sich in der Nähe des Königspaares niemand … danebenbenehmen!«
»Nun, ich werde sehen, was ich tun kann.« Er sprach mit der Stimme eines Mannes, von dem erwartet wurde, etwas zu ermöglichen, das außerhalb seiner üblichen Pflichten lag. Erstaunlicherweise fragte er nicht, ob sie überhaupt ein Recht hatte, sich hier aufzuhalten. Vielleicht reichte die Erwähnung der Königin aus, um das Denkvermögen dieser Männer zu lähmen.
Wenig später führte sie ihr Cabo durch das an einen Alptraum erinnernde Lager. Überall stieß sie auf Sklavenpferche, aus denen die schrecklichsten Geräusche drangen. Im Licht der Feuer sah sie zuckende Körper. Betrunkene Soldaten torkelten zwischen den Pferchen umher. Wenn sie ihr zu nahe kamen, scheuchten sie die vier Wächter fort, die ihre Eskorte bildeten. Die Wächter sahen verärgert drein, da sie nicht an den Feiern teilnehmen durften.
Sie waren nicht die einzigen, die ihrer Pflicht nachkamen. Je näher sie den Stadtmauern kamen, umso häufiger sah Fyana Soldaten, die riesige Warenstapel bewachten. Sie hörte Blöken und Grunzen, und es roch nach Blut. Der Kampf war schon lange vorbei. Sie hoffte, der Geruch stammte von Tieren, die den Soldaten als Nahrung dienten.
Schließlich gingen sie zwischen zwei Schutthaufen hindurch, die einst ein Teil der riesigen Stadtmauer gewesen waren. Die eigentliche Stadt bestand nur noch aus Ruinen. Schattenhafte Gestalten trieben sich zwischen Häusern und in dunklen Gassen herum. Waren es Soldaten? Oder Plünderer, die im Schutze der Nacht die Keller verließen, um sich am Gerippe ihrer einstigen Heimat gütlich zu tun? Was auch immer vor sich ging, es geschah lautlos. Im Gegensatz zu der Ebene vor der Stadt herrschte hier dumpfes Schweigen. Der größte Teil des Weges war in Finsternis gehüllt, und außer den Fackeln der Wächter sah sie keine andere Lichtquelle. Nach geraumer Zeit erreichten sie einen großen Platz.
Auf der freien Fläche brannten etliche Feuer, und im Licht zahlloser Fackeln waren Sklaven damit beschäftigt, ein riesiges Gebäude abzutragen. Offenbar war die Arbeit so wichtig, dass der König sie Tag
Weitere Kostenlose Bücher