Brüder Des Zorns
wach, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Ein milder Wind strich durch die Bäume, die den jungen Mann durch ihr leises Seufzen und Knarren in den Schlaf wiegten. Er schloss die Augen und schlief mit dem Gedanken ein, dass es trotz Fyanas Beteuerungen hier von Geistern nur so wimmelte.
Im grauen Dämmerlicht wachte er auf. Ohne sich zu rühren, spähte er aufmerksam umher. Alles blieb still, und so richtete er sich vorsichtig auf. Die Cabos dösten mit hängenden Köpfen vor sich hin. Auf der anderen Seite des Feuers lag Fyana in ihre Decken gehüllt, und nur der blonde Haarschopf lugte hervor.
Lautlos erhob er sich und ergriff den Waffengurt. Dann schlich er davon, als sei er einer besonders scheuen Beute auf der Spur. Nachdem Ansa das Lager hinter sich gelassen hatte, legte er den Gurt auf den Boden, um sich zu erleichtern. Inzwischen stand er am Waldrand, und das vor ihm liegende Land sah im Dämmerlicht ausgesprochen seltsam aus. Ansa schnürte die Hose auf und blinzelte, um besser sehen zu können, aber der Anblick blieb eigenartig. Plötzlich bemerkte er, dass die Gegend auch sein Gehör beeinträchtigte, da sein Tun nicht von dem üblichen Geplätscher begleitet wurde. Er schaute nach unten, und ihm stockte der Atem: Der Urin strömte an seinen Zehen vorbei in eine mindestens tausend Fuß tiefe Schlucht hinab. Ansa stand genau am Rand des schrecklichsten Abgrundes, den er je gesehen hatte. Als er aufschaute, wurde ihm der Grund für seine Verwirrung bewusst. Die Schlucht bot einen so unglaublichen Anblick, dass ein unvorbereitetes Gehirn nicht in der Lage war, ihn zu begreifen. Der Abgrund bildete einen so tiefen Riss im Boden, dass selbst Berge wie unbedeutende Hügel aussahen.
Allmählich wurde es heller, und die Farben der Schlucht – teilweise gedämpft, teilweise grell – traten deutlicher hervor. Zeit, Wind und Regen hatten der Schlucht Formen verliehen, die sich Ansa auch in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Dieses zugleich schöne und schreckliche Wunderland erstreckte sich vor ihm, so weit das Auge reichte. Sein Entsetzen verschwand, und eine seltsame Freude packte ihn. Trotz allem war er froh, die Schlucht auf diese Weise entdeckt zu haben und nicht beim Reiten, wenn Fyana ihm schon im Voraus geschildert hätte, was ihn erwartete.
»Ist es nicht traumhaft?« fragte sie aus dem Hintergrund. Hastig schloss er die Hose und drehte sich um. »Das ist viel zu milde ausgedrückt. Letzte Nacht dachte ich, du machst dich lustig über mich, als du sagtest, ich könnte im Dunklen hineinfallen. Beinahe wäre es passiert.«
Sie trat neben ihn und zeigte nach unten. »Siehst du das schmale silberne Band, das sich um den Fuß des Hügels windet?«
»Ja, aber nur undeutlich. Ist das ein kleiner Fluss?« Die Proportionen bereiteten Ansa noch immer Schwierigkeiten.
»Das ist der Kol.«
»Unmöglich!« rief er. »Halt, das sollte ich besser nicht sagen. Diese Schlucht verschluckt ganze Berge. Aber wie kann ein so mächtiger Storm so klein aussehen? Wie tief ist der Abgrund?«
»An dieser Stelle mehr als eine Meile.«
»Wirklich? Auf ebenem Gelände erscheint mir eine Meile nicht sehr viel. Es ist anders, wenn es plötzlich in die Tiefe geht. Wie groß ist die Schlucht?«
Sie deutete nach vorn. »Mehr als zwanzig Meilen breit und von einem Ende zum anderen sind es mindestens zweihundert Meilen.«
Ansa setzte sich auf den Rand der Schlucht und ließ die Beine baumeln. »Ich glaube, ich könnte ein ganzes Jahr hier sitzen und nie müde werden, den Anblick zu genießen.«
»Es ist noch nicht ganz hell. Warte, bis die Sonne höher steht. Der Blick und besonders die Farben verändern sich von einer Stunde zur anderen. Sogar die Form der Felsen und Hügel scheint sich im Laufe des Tages zu verändern.«
»Ich bin froh, dass ich dies erleben darf. Mir wäre etwas Wundervolles entgangen.« Auf den ausladenden Felsplateaus unter ihm wuchsen üppige Sträucher und sogar kleine Wäldchen. Tiere, die wie winzige Insekten aussahen, grasten oder streiften umher.
»Wohin reiten wir als nächstes?« Ansa riss sich nur widerwillig von dem eindrucksvollen Anblick los.
»Ungefähr fünf Meilen östlich gibt es einen Pfad, der auf den Grund der Schlucht führt. Wir brauchen fast den ganzen Tag, um dorthin zu gelangen.«
»Mich wundert, dass es überhaupt an einem Tag zu schaffen ist.«
Sie kehrten zum Lagerplatz zurück, packten ihre Habseligkeiten und sattelten die Cabos. Fyana führte sie
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