Brüder Des Zorns
die Schluchten«, sagte Ansa. »Jetzt bin ich hier, sehe aber nichts Ungewöhnliches.« Er war in Begleitung Fyanas, die auf einem kleinen ruhigen Cabo saß, auf die Jagd geritten. Ansa war erleichtert, denn er konnte die stinkenden, hässlichen und missmutigen Buckler nicht ausstehen.
»Was hast du denn erwartet?« erkundigte sie sich neugierig.
Er zuckte die Achseln. »Schluchten habe ich schon viele gesehen, aber von dieser heißt es, sie sei die größte.«
»Das stimmt, sie ist die größte Schlucht der Welt. So groß wie ein Königreich.«
»Ist es ein Königreich?«
Sie schenkte ihm das geheimnisvolle Lächeln, das so typisch für ihr Volk war und das Ansa überhaupt nicht gefiel.
»Nun, so etwas in der Art. Natürlich kein Königreich, wie es bei anderen Nationen der Fall ist. Zuerst einmal ist da die Schlucht selbst, die von dem schmalen, hochgelegenen Pfad umgeben wird. Das Ganze nennen wir ›das bunte Land‹. Dann gibt es noch das Tiefland im Westen nahe des großes Sees, das die Nevaner ›die Zone‹ nennen. Schließlich haben wir noch die Wüste im Norden. All das ist bei Fremden unter dem Namen ›das verheißene Land‹ bekannt.«
»Aber ist es ein richtiges Königreich?« beharrte Ansa.
»Nun, in der Zone lebt ein Mann, der sich König nennt, und wir bezeichnen uns als Lehensvolk, denn das vereinfacht unsere Geschäfte mit fremden Ländern.«
Er spürte, dass sie ihm einen Köder vorwarf, fand aber keine passende Antwort. »Ein Land mit so vielen Namen habe ich noch nie gekannt. Warum ›Zone‹? Warum ›Giftiges Land‹?«
»Das sind uralte Namen, die noch aus den Tagen der feurigen Speere und des großen Unheils stammen. Wir verwenden sie nicht.«
»Ich hatte gehofft, in diesem Land mein Wissen zu erweitern«, knurrte Ansa unwillig. »Anscheinend wollt ihr mich daran hindern.«
»Um dieses oder irgendein anderes Land wirklich kennen zu lernen, muss man lange Zeit dort leben und die Sitten und Gebräuche der Völker befolgen.« Sie schaute über das von Büschen gesäumte Hügelland und legte den Finger an die Lippen, um ihn zum Schweigen aufzufordern. Er fragte sich, ob sie ihn zum Bleiben überreden wollte. Natürlich war der Gedanke verlockend, aber er stand erst am Anfang seiner Reise und war nicht bereit, sie schon jetzt abzubrechen. Nun ja, noch bestand keine Eile …
»Pst!« zischte sie und deutete nach rechts. In ungefähr hundert Schritt Entfernung knabberte ein fettes junges Krummhorn an einem Busch. Das Tier hatte die Oberlippe weit nach vorn gestreckt und hielt damit die Zweige fest, um die saftigen Blätter in aller Ruhe zu verzehren.
Ansa zog einen Pfeil aus dem Köcher. Vorsichtig hob er den Bogen und zog die Sehne zurück, während er auf die gefleckte Flanke genau hinter der Schulter zielte. Mit leisem Surren schnellte die Sehne vor, und der Pfeil schwirrte durch die Luft. Er versank bis an die Schaftfedern im Leib des Krummhorns. Ansa genoss das Gefühl, genau ins Herz der Beute getroffen zu haben. Das Tier riss überrascht den Kopf hoch und machte zwei Sprünge zur Seite, ehe es in sich zusammenfiel. Die Beine zuckten noch einmal, dann lag es still.
»Guter Schuss!« lobte Fyana. »Du hast nicht übertrieben, als du die Geschicklichkeit deines Volkes schildertest.«
»Für ein unbewegtes Ziel war das keine große Entfernung«, meinte er bescheiden. »Holen wir die Beute. Sicher erlegen wir noch mehr, da Krummhörner niemals allein umherstreifen.«
»Wir sollten dem ganzen Dorf ein Festmahl bescheren«, schlug Fyana vor.
»Fyana, wirst du mich zur Schlucht führen? Ich möchte sie sehen.«
Sie ritt zu dem toten Krummhorn hinüber und sprang aus dem Sattel. Dann zog sie einen bunten Stab aus der Packtasche und malte ein Zeichen auf die Stirn des Tieres. Nach geraumer Zeit sah sie Ansa an.
»Ja. Ich werde dich hinbringen.«
Bei Anbruch des Tages hatten sie das Dorf verlassen, aber schon nach kurzer Zeit veränderte sich die Luft. Anfangs überlegte Ansa, ob es kälter geworden war, wusste aber, dass es nicht sein konnte. Sie waren den ganzen Tag über bergauf geritten, aber nicht in Höhen, die eine derartige Abkühlung rechtfertigten. Eine Spannung lag in der Luft, die weder zu sehen noch zu fühlen war, die jedoch einen seiner Sinne reizte, der bis heute geschlummert hatte. Er schüttelte den Kopf, da er das Gefühl nicht in Worte fassen konnte. Bestimmt lebten hier zahlreiche Geister.
Die Bäume mit besonders rauer Rinde, seltsam verdrehten Ästen und
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