Brüder Des Zorns
früh eingetroffen, und ich muss sie begrüßen. Ich bin gleich zurück.«
»Ist es nicht unglaublich?« flüsterte Fyana, als die Frau fort war.
»Es ist … anders«, antwortete Ansa. Er teilte Fyana seine Befürchtungen mit, und sie dachte darüber nach.
»Nein«, meinte sie schließlich. »Das glaube ich nicht. Die Geschenke waren zu kostbar, um als Entgelt für zwei Fremde zu dienen, damit sich der müßige Adel einen Abend lang die Zeit vertreiben kann. Trotzdem kann ich mir immer noch nicht vorstellen, warum wir hier sind.«
»Wahrscheinlich finden wir es in Kürze heraus.«
Wenig später kehrte Yasha mit zwei Gästen zurück, einem Mann und einer Frau. Die Frau war so stark geschminkt wie die Gastgeberin am Tag zuvor, und der Mann trug eine richtige Maske, die aus Leder, winzigen Knochen und Federn bestand und sein Gesicht von der Stirn bis zur Oberlippe bedeckte. Den Mund rahmte ein kurzer schwarzer, von grauen Strähnen durchzogener Bart ein.
»Lady Fyana, edler Ansa, lasst mich euch Lord Klon und Lady Hesta vorstellen.« Das Paar verneigte sich umständlich. Ansa spürte, dass etwas nicht stimmte. Die Namen klangen anders als die Namen der in diesem Land lebenden Adligen. Wenn er an die Bemalung der Frau und die Maske des Mannes dachte, handelte es sich bestimmt um falsche Namen. Die Leute wollten ihre wahre Herkunft geheim halten. Alles erschien ihm sehr mysteriös.
Yasha führte sie in ein prächtiges Speisezimmer, wo genügend Essen für fünfzig anstatt fünf Gäste aufgetischt war. Ansa fragte sich, ob es sich um reine Verschwendung handelte oder der Rest des Mahls dazu diente, die offenbar sehr zahlreiche Dienerschaft des Hauses zu sättigen.
Während das Essen mit seinen unzähligen Gängen serviert wurde, beschränkte sich die Unterhaltung der Neuankömmlinge auf allgemeine Themen. Sie wollten alles über die Schlucht erfahren, über Ansas und Fyanas Reise und ihre Eindrücke von der Stadt. Ansa fiel auf, dass sich Yasha den Fremden gegenüber demütig verhielt, als seien sie von höherem Rang. Außerdem richtete sich die größte Aufmerksamkeit auf Fyana, wie er vermutet hatte. Ihm schenkte man eher der Höflichkeit halber Beachtung. Das war ihm recht. Bisher hatte er keine gute Meinung vom Adel Grans und hieß die Gelegenheit willkommen, als Außenstehender zu beobachten, ohne fortwährend darauf zu achten, was er sagte, wie es Fyana jetzt tat.
»Lady Fyana«, sagte Lord Klon, als die Teller fortgetragen wurden, »gewisse Leute deines Volkes sind mit … Heilkräften gesegnet. Gehörst du zu ihnen?« In diesem Augenblick servierte man ihnen einen starken, fruchtigen Likör in hohen, schmalen Kelchen. Ansa fragte sich, ob es das Zeichen war, zu ernsthaften Gesprächen überzugehen. Diese Leute legten viel Wert auf Zeremonien und Förmlichkeiten.
»Ich besitze gewisse Kräfte, würde mich aber nicht als Heilerin bezeichnen. Mein Talent besteht darin, den menschlichen Körper zu erkunden und Krankheiten zu erkennen. Ich kann nicht heilen, weiß aber über Arzneien Bescheid und kann sie häufig empfehlen, um Kranken zu helfen.«
»Das würde …« Lady Hesta brach ab. »Ich meine: Das ist faszinierend. Darf man fragen, wie es vor sich geht?«
»Das ist kein Geheimnis. Ich berühre den Leidenden an der Schläfe oder an dem befallenen Körperteil. So wird mir die Quelle des Übels offenbar.«
»Müssen die Menschen bei Bewusstsein sein?«
»Das ist am besten«, erklärte Fyana. »Schließlich wirkt der Geist auf den Körper ein. Manchmal kann ich aber auch eine bewusstlose Person untersuchen. Es dauert länger und kann auch gänzlich erfolglos bleiben. Der Geist wirkt auch in einem bewusstlosen Menschen fort, kann aber keine deutlichen … Zeichen aussenden, und ich erhalte oftmals nur einen ganz verschwommenen Eindruck.«
»Kannst du auch bestätigen, ob jemand völlig gesund ist?« erkundigte sich der maskierte Mann.
»Fast immer«, antwortete Fyana.
»Würdest du es uns vorführen?« fragte Lady Hesta. »An mir, zum Beispiel?«
»Wenn du es wünschst.«
Beide Frauen beugten sich vor, und Fyana legte die Spitzen ihrer schmalen blauen Finger gegen die geschminkte Schläfe der Fremden. Beide schlossen die Augen.
»Soll ich mich auf irgend etwas konzentrieren?« fragte Hesta. »Auf meinen Körper?«
»Nicht nötig«, versicherte Fyana. »Entspanne dich einfach.«
Minutenlang blieben die Frau ruhig sitzen, während die anderen schwiegen. Endlich zog Fyana die Hand zurück und
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