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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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unaufhaltsam näherkam.
    Die gesamte Bevölkerung scheint auf den Beinen zu sein – wälzt sich in brütender Hitze durch die Straßen und über die Plätze auf die öffentlichen Gärten mit ihren Kastanienalleen und ihrem Orleanistengeist zu. Der Brotpreis ist gerade wieder gestiegen. Vor der Stadt lagern ausländische Truppen. Ordnung ist eine bloße Erinnerung, das Gesetz greift nicht mehr. Die französischen Garden haben ihre Posten verlassen, ihre Soldaten gehen wieder ihrem Handwerk nach, dafür sind lichtscheue Gestalten jeder Couleur aus ihren Kellerlöchern gekrochen. Ihre blutleeren, verkniffenen Gesichter sind belebt von nächtlichen Visionen von Hinrichtungen und sonstigen öffentlichen Martern, und über alldem klafft die Sonne wie eine Wunde, ein schwärendes tropisches Auge.
    Unter diesem Auge wird Schnaps verschüttet, Wut schwelt und flammt auf: Perückenmacher und Schreiber, Lehrburschen aller Art, Kulissenschieber, Ladeninhaber, Brauer, Tuchhändler, Gerber und Gepäckträger, Messerschleifer, Kutscher und Prostituierte – das Erbe von Titonville. Vor und zurück wogt die Menge, angetrieben von Gerüchten und gefährlicher Unrast; und mittenhinein fangen die Uhren zu schlagen an.
    Bis jetzt war all dies ein Scherz, eine Kraftprobe. Es sind lauter Frauen und Kinder in der Menge. Die Straßen stinken. Warum sollte der Hof sich der politischen Entwicklung fügen? Durch diese Gassen könnten die Massen getrieben werden wie Schweine, um sich in den Höfen von berittenen Deutschen abschlachten zu lassen. Sollen wir warten, bis es so weit ist? Wird der König den Sonntag entweihen? Morgen ist Feiertag, da können die Menschen in aller Ruhe sterben. Die Uhren hören auf zu schlagen. Die Kreuzigungsstunde, wie wir alle wissen. Es ist besser, ein Mensch stürbe für das Volk, und 1757, noch vor unserer Zeit, versetzte ein gewisser Damiens dem alten König einen leichten Stich mit einem Taschenmesser. Seine Hinrichtung ist bis heute nicht vergessen, ein Tag schriller Volksbelustigung, eine Fiesta der Pein. Zweiunddreißig Jahre sind seither vergangen, und nun sind die Schüler des Henkers von damals bereit für ein blutiges Jubiläum.
    Camilles überstürzter Eintritt in die Weltgeschichte kam so zustande: Er stand in der Tür des Café du Foy, erhitzt, erregt, eine Spur eingeschüchtert von so viel Gedränge und Geschiebe. Er solle doch zu der Menge sprechen, hatte jemand im Innern des Cafés gemeint, deshalb war ein Tisch in den Eingang gerückt worden. Einen Augenblick lang schwindelte ihm. Er lehnte sich gegen den Tisch, Leiber auf allen Seiten. Ob d’Anton seinen Kater wohl auch noch spürte? Was war nur in ihn gefahren, dass er die ganze Nacht durchgemacht hatte? Er wünschte, er wäre in einem dunklen, stillen Raum, allein, aber, um mit d’Anton zu sprechen, in der Horizontale. Sein Herz hämmerte. Hatte er heute denn schon irgendetwas gegessen? Eher nicht. Er fühlte sich dem Ersticken nahe in diesem säuerlichen Treibnebel aus Schweiß, Unruhe und Angst.
    Drei junge Männer bahnten sich im Schulterschluss einen Weg durch die Menge. Ihre Mienen waren grimmig, sie gingen untergehakt, sie waren auf Krawall aus – inzwischen hatte er genug dieser Straßenszenen miterlebt, um ihre Stimmung einschätzen zu können und zu wissen, dass Opfer nicht ausbleiben würden. Zwei der Männer erkannte er, den dritten sah er zum ersten Mal. »Zu den Waffen!«, schrie dieser Dritte. Die anderen schrien mit.
    »Was für Waffen?«, sagte Camille. Er strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und streckte mit fragender Gebärde die Hand aus. Jemand drückte eine Pistole hinein.
    Er starrte darauf, als wäre sie vom Himmel gefallen. »Ist die geladen?«
    »Was denkst du denn?« Irgendwer gab ihm noch eine zweite Pistole. Der Schreck war so groß, dass er sie hätte fallen lassen, wenn der Mann ihm nicht die Finger um den Griff gebogen hätte. Das hatte man nun von seiner Kompromisslosigkeit, seiner Weigerung, sich mit hohlen Sprüchen zu bescheiden. Der Mann sagte: »Halt die Hand ruhig, verdammt, willst du dir das Gesicht zerschießen?«
    Heute wird es passieren, dachte er, die Truppen werden vom Marsfeld anrücken, es wird Verhaftungen geben, Massenfestnahmen, Exempel werden statuiert werden. Schlagartig begriff er, wie weit die Entwicklung seit letzter Woche gediehen war, seit gestern – ja seit der letzten halben Stunde. Ganz bestimmt passiert es heute noch, dachte er. Es gibt kein Zurück mehr.
    Er

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