Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
hatte den Moment im Geist so oft durchgespielt, dass jetzt alles wie von allein geschah, so fließend und selbstverständlich wie in einem Traum. Er sprach nicht zum ersten Mal von der Tür des Cafés aus. Er musste nur die ersten Worte herausbringen, den ersten Satz, dann war es geschehen, dann konnte er es – und er wusste, er konnte es besser als jeder andere, denn dies war der Brosamen, den Gott eigens für ihn aufgespart hatte, wie den letzten Bissen auf einem Teller.
Er schob ein Knie auf den Tisch und kletterte hinauf. Er bückte sich nach den Pistolen. Sofort war er umringt von Zuhörern, wie von der Menge in einem Amphitheater. Jetzt verstand er, was das hieß, »ein Meer von Gesichtern«; um ihn wogte ein lebendiges Meer, in dem panikerfüllte Gesichter keuchend nach Luft schnappten, bevor der Sog sie in die Tiefe riss. Aber noch mehr Menschen hingen aus den oberen Fenstern des Cafés und der Gebäude ringsum, und die Menge schwoll immer noch an. Er stand zu niedrig, er war nicht Blickfang genug. Niemand schien zu sehen, was ihm fehlte, und ehe er nicht zu sprechen begann, richtig zu sprechen, würde ihn auch keiner hören. Er fasste beide Pistolen mit einer Hand, klemmte sie unter den Arm, sodass ein versehentlicher Schuss ihn völlig zerfetzen musste, aber um nichts in der Welt hätte er sie jetzt noch loslassen wollen. Mit dem linken Arm gab er jemandem im Café einen Wink. Ein Stuhl wurde herausgereicht und neben ihn auf den Tisch gestellt. »Hältst du ihn mir?«, sagte er. Er verlagerte die eine Pistole zurück in die Linke. Zwei Minuten nach drei.
Als er den Stuhl bestieg, fühlte er ihn kippeln. Welch ein Witz, dachte er, wenn ich herunterfiele – aber die Leute würden wahrscheinlich sagen, typisch Camille. Dann griff eine Hand nach der Lehne und hielt sie fest. Es war ein ganz gewöhnlicher Flechtstuhl. Wenn er nun Georges-Jacques wäre? Durchbrechen würde er!
Jetzt stand er schwindelnd hoch über der Menge. Ein fauliger Geruch zog durch die Gärten heran. Weitere fünfzehn Sekunden waren verstrichen. Er merkte, dass er einzelne Gesichter ausmachen konnte, und blinzelte verblüfft. EIN WORT , dachte er. Dort war die Polizei, dort standen ihre Spitzel und Informanten, Männer, die ihn nun schon seit Wochen beobachteten, die Kollegen und Komplizen jener Männer, die nur wenige Tage zuvor vom Mob in die Enge getrieben und fast in den Brunnen ertränkt worden waren. Aber dies nun war blutiger Ernst; hinter ihnen warteten Bewaffnete. Aus schierer Angst fing er an.
Er deutete auf die Gendarmen, zeigte sie dem Mob. Er bot ihnen die Stirn: Kommt nur näher, rief er, schießt mich herunter, versucht mich lebend zu erwischen. Wozu er die Menge aufruft, ja sie aufpeitscht, das ist bewaffneter Aufstand, aus der Stadt soll ein Schlachtfeld werden. Schon jetzt (vier nach drei) ist er einer langen Reihe von Kapitalverbrechen schuldig, und wenn die Menge seine Festnahme zulässt, ist er erledigt, reif für jegliche Strafen, die das Gesetz vorsieht. Darum wird er, wenn die Gefahr sich abzeichnet, auf jeden Fall einen Gendarmen erschießen, und auf jeden Fall wird er sich selbst erschießen und hoffen, dass es schnell geht, und dann wird sie da sein, die Revolution. Diesen Entschluss fasst er im Bruchteil einer Sekunde, zwischen zwei Halbsätzen. Es ist fünf nach drei. Exakte Formulierungen sind unwichtig geworden. Etwas geschieht zu seinen Füßen, die Erde bricht auf. Was will die Menge? Brüllen. Ihre weiterreichenden Ziele? Keine zusammenhängende Antwort. Frag sie: Gebrüll. Wer sind diese Menschen? Keine Namen. Die Menge will nur wachsen, anschwellen, vereinnahmen, verschmelzen, verschlingen und dazu wie aus einer Kehle brüllen. Stünde er nicht hier oben, dann müsste er erst recht sterben, sterben zwischen den Seiten seiner Briefe. Falls er das hier überlebt – der Tod als Erlösung –, wird er Worte dafür finden müssen, Worte, die das Leben künftiger Zeiten diktieren werden, und schon jetzt hat er Angst, dass er sie nicht finden wird: Worte für die Hitze, das Grün der Kastanien, den beißenden Staub und den Blutgeruch und die mordlustige Heiterkeit seiner Zuhörer; ein Dschungel der Hyperbeln erwartet ihn, eine Odyssee des schlechten Geschmacks. Geschrei und Gewimmer und blutige Versprechen kreisen um seinen Kopf, eine scharlachrote Wolke, ein neues, reines, verdünntes Element, in dem er schwebt. Einen Augenblick lang hebt er die Hand ans Gesicht und berührt seinen Mundwinkel, da, wo
Weitere Kostenlose Bücher