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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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ihn am Morgen der Ring des Comte gestreift hat: der einzige Anhaltspunkt, dass sein Körper, sein Fleisch noch dasselbe sind wie zuvor.
    Die Gendarmen sind zurückgetrieben worden. Erst vor ein paar Tagen hat er an diesem selben Ort gerufen: »Die Bestie ist gefangen, macht ihr den Garaus!« Damit hat er das alte Regime gemeint, das System, unter dem er sein Leben lang gelebt hat. Aber nun sieht er eine andere Bestie vor sich: den Mob. Ein Mob hat keine Seele, kein Gewissen, nur Pranken, Klauen, Zähne. Der Hund von M. Saulce fällt ihm ein, an diesem verschlafenen Nachmittag damals auf der Place des Armes, als er ihm als Dreijähriger vom Fenster aus zusah, wie er eine Ratte in die Luft schleuderte und ihr das Genick durchbiss. Von dem heutigen Anblick wird keiner ihn wegzerren, keiner wird dieses Untier an die Kette legen und es wieder ins Haus führen. Und so redet er denn mit ihm, beugt sich dem Mob entgegen, streckt ihm die Hand hin – schmeichelt und lockt und zieht. Eine seiner Pistolen ist weg, wohin, weiß er nicht, es spielt keine Rolle mehr. Das Blut in seinen Adern ist zu Marmor geworden. Er hat die Sterblichkeit abgestreift.
    Die Menge, heiser nun, taumelt wie toll. Er stürzt sich in sie hinab. Hundert Hände greifen nach seinen Kleidern und Haaren, nach seiner Haut, seinem Fleisch. Um ihn wird geweint und geflucht, Schlachtrufe werden gebrüllt. Sie rufen seinen Namen, sie kennen ihn. Der Lärm scheint direkt der Apokalypse zu entstammen, alle Heerscharen der Hölle sind ausgebrochen und strömen durch die Straßen. Den Schlag der Viertelstunde hört keiner mehr. Viele Leute schluchzen. Sie heben ihn hoch und tragen ihn auf den Schultern durch die Gärten. Eine Stimme kreischt, dass irgendwo Äxte zu haben sind, zwischen den Bäumen treiben Rauchschwaden. Eine Trommel beginnt zu schlagen, nicht tief, nicht schwingend, ein harter, trockener, wilder Ton.
    Camille Desmoulins an Jean-Nicolas Desmoulins in Guise:
Es war ein Fehler von Dir, nicht mit nach Laon zu kommen, um Dich für meine Nominierung zu verwenden. Aber das macht jetzt nichts mehr. Ich habe unserer Revolution meinen Namen eingeschrieben, in größeren Lettern als alle unsere picardischen Abgeordneten zusammen.
    Am frühen Abend brach M. Duplessis mit ein paar Freunden, die ihre Neugier zu stillen hofften, zu einem Erkundungsgang auf. Er nahm einen kräftigen Stock mit, um sich damit zudringlicher Vertreter der Arbeiterschaft zu erwehren. Mme Duplessis bat ihn, nicht zu gehen.
    Annettes Gesicht war ganz verkniffen vor Sorge. Die Diener hatten abscheuliche Gerüchte mit nach Hause gebracht, und sie befürchtete, es könnte etwas daran sein. Lucile schien sich dessen recht sicher. Sie saß so überaus still und bescheiden da wie eine Gewinnerin im Lotto.
    Adèle war bei ihnen. Das war sie in diesen Tagen meistens, wenn sie nicht gerade in Versailles Besuche machte und Tratsch mit heimbrachte. Sie kannte Abgeordnetengattinnen und Abgeordnete, sämtliche Reden, die in den Cafés geschwungen wurden, sämtliche Abstimmungsstrategien der Versammlung.
    Lucile ging in ihr Zimmer. Sie nahm Feder und Tinte und ein Blatt Papier und schrieb darauf: »Adèle ist in Maximilien Robespierre verliebt.« Sie riss den Streifen ab und zerknüllte ihn.
    Sie griff nach ihrer Stickerei. Sie stickte langsam, konzentriert; sie wollte später einmal in der Lage sein, die minutiöse Arbeit vorzuzeigen, die sie an diesem Nachmittag zwischen viertel nach fünf und viertel nach sechs verrichtet hatte. Sie spielte mit dem Gedanken, ein paar Tonleitern zu üben. Wenn ich erst verheiratet bin, dachte sie, werde ich ein Klavier haben, und ein paar andere Neuerungen wird es auch geben.
    Als Claude zurückkam, ging er direkten Wegs in sein Arbeitszimmer, noch mit Mantel und Hut, und warf die Tür hinter sich zu. Annette sah ein, dass er einen Augenblick benötigen könnte, um sich zu fassen. »Ich fürchte, euer Vater hat eine schlimme Nachricht erhalten«, sagte sie.
    »Wie kann er das«, fragte Adèle, »wenn er sich nur draußen umschaut? Ich meine, es ist ja nicht sein persönliches Schicksal, oder?«
    Annette klopfte behutsam. Die Mädchen standen dicht hinter ihr. »Komm heraus«, rief sie. »Oder sollen wir hereinkommen?«
    »Der Minister ist ein reiner Vorwand«, sagte Claude.
    »Necker«, verbesserte ihn Adèle. »Er ist nicht mehr der Minister.«
    »Nein.« Claude war hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität gegenüber seinem Dienstherrn und dem Drang, seinen

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