Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Gefühlen Luft zu machen. »Ihr wisst, dass ich nie viel für den Mann übrig hatte. Er ist ein Scharlatan. Aber er hat es nicht verdient, als Vorwand missbraucht zu werden.«
»Liebster«, sagte Annette, »vor dir stehen drei Frauen in beträchtlicher Seelenpein. Meinst du, du kannst dich dazu überwinden, ein klein wenig konkreter zu werden?«
»Sie randalieren«, sagte Claude schlicht. »M. Neckers Entlassung hat ein Chaos entfesselt. Wir befinden uns im Zustand der Anarchie, und Anarchie ist kein Wort, das ich leichtfertig gebrauche.«
»Setz dich, Lieber«, sagte Annette.
Claude setzte sich hin und deckte die Hand über die Augen. Von der Wand herab blickten der alte König, eine billige Lithographie der derzeitigen Königin mit Federn im Haar und taktvoll verkleinertem Kinn, eine Gipsbüste ihres Gatten, der wie ein Stellmachergehilfe aussah, sowie der Abbé Terray von vorn und im Profil.
»Es herrscht völliger Aufruhr«, sagte er. »Sie stecken die Zollschranken in Brand. Sie haben die Theater geschlossen und sind ins Wachsfigurenkabinett eingebrochen.«
»Ins Wachsfigurenkabinett eingebrochen?« Annette merkte, wie sich auf ihrem Gesicht ein törichtes Grinsen breitmachte. »Was wollen sie denn im Wachsfigurenkabinett?«
»Woher soll ich das wissen?« Claude erhob die Stimme. »Woher soll ich wissen, warum sie irgendetwas machen? Fünf- oder sechstausend Mann rücken auf die Tuilerien vor. Und das ist nur ein Zug, und alle werden sie immer größer. Sie zerstören die ganze Stadt.«
»Aber wo sind die Soldaten?«
»Ja, wo sind sie? Das wüsste der König sicher auch gern. Sie könnten genauso gut Spalier stehen und die Meute anfeuern, so nützlich sind sie. Nur gut, dass der König und die Königin in Versailles sind, wer weiß, was noch passieren kann, denn angeführt wird der Mob von –« Ihm fehlten die Worte. »Von diesem Menschen.«
»Das glaube ich dir nicht.« Annettes Stimme war sachlich. Sie sagte es nur der Form halber; sie wusste, dass es stimmte.
»Wie du willst. Du wirst es morgen in der Zeitung lesen können – falls noch eine erscheint. Anscheinend hat er eine Rede im Palais Royal gehalten, und diese Rede hat eine bestimmte Wirkung gezeigt, und jetzt ist er eine Art Held für diese Leute. Diese Meute, sollte ich sagen. Die Polizei wollte ihn festnehmen, und er war unklug genug, sie sich mit einer Waffe vom Leib zu halten.«
»Ich weiß nicht, ob das so unklug war«, sagte Adèle, »wenn man das Ergebnis bedenkt.«
»Oh, hätte ich doch Vorkehrungen getroffen«, sagte Claude. »Hätte ich euch beide doch weggeschickt. Womit habe ich nur solche Töchter verdient: Die eine macht sich mit Radikalen gemein, und die andere will sich partout an einen Kriminellen ketten.«
»Einen Kriminellen?« Lucile klang überrascht.
»Ja. Er hat Gesetze gebrochen.«
»Die Gesetze werden geändert werden.«
»Ach«, sagte Claude, »meinst du das? Die Truppen werden ihnen heimleuchten.«
»Du scheinst das alles für Zufall zu halten«, sagte Lucile. »Nein, Vater, lass mich jetzt sprechen, ich habe das Recht dazu, weil ich besser als du verstehe, was hier passiert. Tausende von Randalierern, sagst du, wie viele Tausend, weißt du nicht, aber die Garde wird niemals gegen die eigene Bevölkerung vorgehen – die meisten von ihnen sind ohnehin auf unserer Seite. Wenn jemand die Sache in die Hand nimmt, werden sie bald genügend Waffen haben, um die restlichen Truppen auszustatten. Das Regiment Royal Allemand wird einfach eine verschwindende Minderheit sein.«
Claude starrte sie an. »Deine Vorkehrungen hätten nicht mehr gegriffen«, sagte seine Frau gedämpft. Lucile räusperte sich. Es war fast eine Rede, die sie hier hielt, en miniature , aber dennoch. Ihre Hände zitterten. Ob er wohl große Angst gehabt hatte – ob er in all dem Gestoße und Geschiebe ganz die Ruhe im Auge des Sturms vergessen haben konnte, den rettenden Hafen im lebendigen Herzen all diesen Tumults?
»Das alles war geplant«, sagte sie. »Ich weiß, es steht Verstärkung bereit, aber sie muss erst den Fluss überqueren.« Sie trat ans Fenster. »Schau. Kein Mond heute Nacht. Wie lange mögen sie brauchen, um im Dunkeln überzusetzen? Ihre Kommandeure werden im Streit liegen. Sie verstehen nur auf dem Schlachtfeld zu kämpfen, von Straßenkämpfen verstehen sie nichts. Bis morgen Abend – wenn man sie jetzt auf der Place Louis XV halten kann – wird das Stadtzentrum frei von allen Truppen sein. Und die Pariser
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