Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
lächelte ihm zu, als sei er ein alter Freund. »Anne Théroigne«, sagte sie. »Wir haben uns bei einem Vorsingen bei Fabre kennengelernt, wissen Sie noch?«
Ihr Gesicht schimmerte im Regenlicht. Erst jetzt sah er, dass sie völlig durchnässt war und zitterte. »Ja, die Wolken entladen sich«, sagte sie. »Und nicht nur die.«
Der Concierge an der Cour du Commerce hatte die Türen verbarrikadiert, deshalb sprach er durchs Fenster mit Gabrielle. Ihr Gesicht war verschwollen, ihr Haar zerrauft. »Georges ist mit unserem Nachbarn M. Gély losgezogen«, sagte sie, »um Freiwillige für die Bürgerwehr zu rekrutieren. Vor ein paar Minuten kam Maître Lavaux hier vorbei – kennen Sie ihn, er wohnt gegenüber? – und sagte: ›Ich mache mir wirklich Sorgen um Georges, er steht auf einem Tisch und spuckt große Töne, dass wir alle unsere Häuser gegen die Soldaten und die Briganten beschützen sollen.‹« Dann bemerkte sie Camilles Gefolgschaft und schnappte nach Luft. »Was sind das für Leute? Gehören sie zu Ihnen?«
Über Gabrielles Schulter reckte sich das Gesicht von Louise Gély. »Guten Morgen«, sagte sie. »Kommen Sie herein, oder wollen Sie alle auf der Straße stehen bleiben?«
Gabrielle streckte den Arm nach ihr aus und zog sie fest an sich. »Ihre Mutter liegt bei mir und hat Zustände. Georges hat zu Maître Lavaux gesagt: ›Kommen Sie, schließen Sie sich uns an, Sie haben Ihren Posten doch eh verloren, die Monarchie gibt es nicht mehr.‹ Warum, o warum sagt er nur so etwas?« Ihre Hand umkrampfte den Fenstersims. »Wann kommt er zurück? Was soll ich nur tun?«
»Weil es die Wahrheit ist, deshalb sagt er es«, sagte Camille. »Er wird nicht lange fortbleiben, nicht Georges. Halten Sie die Tür gut verschlossen.«
Der betrunkene Grenadier versetzte ihm einen Rippenstoß. »Ist das deine Alte, hm?«
Er wich zurück, starrte den Mann verdattert an. In diesem Moment schien etwas in seinem Kopf mit lautem Schnalzen auseinanderzureißen, und sie mussten ihn gegen eine Mauer lehnen und ihm Branntwein einflößen, sodass ab da nichts mehr einen Sinn ergab.
Wieder eine Nacht auf den Straßen: morgens um fünf die Sturmglocke, warnende Kanonenschläge. »Jetzt wird es ernst«, sagte Anne Théroigne. Sie löste die Bänder aus ihrem Haar und schlang sie durch sein Knopfloch. Rot und Blau. »Rot wie Blut«, sagte sie. »Und blau wie der Himmel.« Die Farben von Paris: Himmelsblut.
Um sechs standen sie vor dem Invalidenhaus und verhandelten um Waffen. Jemand drehte ihn sanft um und zeigte hinüber zum Marsfeld, wo aufgesteckte Bajonette im Frühlicht blitzten. »Die kommen nicht her«, sagte er, und sie kamen nicht. Er hörte seine eigene Stimme ruhige, vernünftige Dinge sagen, während er in die Mündung von Kanonen blickte, hinter denen Soldaten mit brennenden Fackeln bereitstanden. Er spürte keinerlei Furcht. Dann war mit den Verhandlungen Schluss, und um ihn rannten und schrien sie. Dies nennt sich der Sturm auf das Invalidenhaus. Zum ersten Mal hatte er Angst. Als es vorbei war, lehnte er an einer Wand, und die braunhaarige junge Frau drückte ihm ein Bajonett in die Hand. Er legte die Handfläche an die Klinge und fragte in schlichter Neugierde: »Geht das schwer?«
»Leicht«, sagte der betrunkene Grenadier. »Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne. Von diesem kleinen Tumult draußen vor dem Gericht, ist schon ein paar Jährchen her. Wir haben ziemlich hingelangt. Ich hab dich zu Boden geschubst und ein bisschen in die Rippen getreten. Nichts für ungut – das gehört zum Geschäft. Gut, Schaden hast du ja keinen genommen, wie man sieht.«
Camille konnte den Blick nicht von ihm wenden. Der Mann war über und über voll Blut, er triefte davon, seine Kleider waren damit durchweicht, die Haare verklumpt – dickes, geronnenes Blut, durch das er Camille angrinste. Er wirbelte auf dem Absatz herum und führte einen kleinen Tanz auf, die tiefroten Unterarme hochgereckt.
»Und jetzt zur Bastille«, sang er. »Auf zur Bastille, he, zur Bastille, zur Bastille.«
De Launay, der Kommandant der Bastille, war Zivilist und ergab sich in einem grauen Gehrock. Kurz darauf versuchte er sich in seinen Stockdegen zu stürzen, wurde jedoch daran gehindert.
Die Menge, die de Launay umdrängte, schrie: »Bringt ihn um!« Mitglieder der französischen Garden schirmten ihn mit ihren Körpern ab. Aber auf der Höhe der Kirche Saint-Louis gelang es dem Mob, ihn zwischen ihnen hervorzuzerren, er wurde bespuckt und
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