Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
gebracht. Blut wurde aus ihm heraus in ein Glas gedrückt, und die Leute tranken davon. Sie sangen:
Eine Feier ist erst dann eine Feier,
Wenn auch Herzblut darinnen steckt!
Die Nachricht von den Lynchmorden erregte Bestürzung in Versailles, wo die Versammlung gerade in einer Debatte über die Menschenrechte begriffen war. Entsetzen wurde bekundet, Empörung, Protest: Wo war die Bürgerwehr gewesen, während all dies geschah? Foulon und sein Schwiegersohn hatten allgemein als Getreidespekulanten gegolten, aber die Abgeordneten, deren gesamtes Dasein sich zwischen der Salle des Menus Plaisirs und den gut sortierten Speisekammern ihrer Unterkünfte abspielte, waren nicht mehr ganz auf dem Laufenden, was die Stimmung im Volk betraf. Angewidert von so viel Heuchelei fragte Barnave sie: »Dieses Blut, das vergossen wurde – war es so rein?« Entrüstet schrien sie ihn nieder und speicherten ihn im Geist als gefährliches Element ab. Die Debatte wurde wieder aufgenommen, immerhin wollten sie eine »Erklärung der Menschenrechte« abfassen. Einige Stimmen murrten zwar, erst solle die Verfassung geschrieben werden, da Rechte ja kraft Gesetzes bestehen; aber die Jurisprudenz ist so trocken und Freiheit etwas so Aufregendes.
Mit der Nacht des 4. August endet in Frankreich das Feudalsystem. Der Vicomte de Noailles erhebt sich und entäußert sich mit vor Inbrunst bebender Stimme seiner sämtlichen Besitztümer – kein allzu großer Verzicht, da sein Spitzname »Ohneland« ist. Die ganze Nationalversammlung stürzt sich in eine Orgie der Großherzigkeit: Leibeigene werden abgeschafft, Jagdrechte, Gutsherrenprivilegien, Zehnten aller Art, während die Freudentränen nur so strömen. Ein Mitglied schiebt dem Präsidenten einen Zettel hin – »Schließen Sie die Sitzung, sie sind außer sich.« Aber keine himmlische Hand kann sie zurückhalten, wie im Rausch überbieten sie sich gegenseitig an Patriotismus, geben mit Feuereifer den eigenen Besitz weg und mit noch größerem Eifer den Besitz anderer. Nächste Woche werden sie natürlich zurückrudern wollen, doch da wird es zu spät sein.
Derweil zieht Camille durch Versailles, eine Spur von verknüllten Seiten hinter sich, und gebiert im schwülen Schweigen der Hochsommernächte die Prosa, der er längst nicht mehr abhold ist …
Diese Nacht, nicht Passah, hat uns aus der ägyptischen Knechtschaft erlöst … Sie hat den Franzosen ihre Menschenrechte zurückgegeben und alle Bürger für gleich erklärt, tauglich für jeden Rang, jeden Platz, jedes öffentliche Amt; sie hat alle öffentlichen, alle kirchlichen und militärischen Ämter den Reichen, Hochgeborenen, Vornehmen entrissen, um sie der Nation als Ganzer darzureichen auf der Grundlage des Verdiensts. Diese Nacht hat Mme d’Epr– ihre Leibrente von zwanzigtausend Livres gekostet, die ihr die Liebschaft mit einem Minister eingetragen hatte … Jeder darf nun Handel mit Ost- und Westindien treiben, jeder, dem der Sinn danach steht, kann einen Laden aufmachen. Der Schneidermeister, der Schuhmachermeister, der Perückenmachermeister werden wehklagen, aber die Gesellen werden frohlocken, und in den Dachstuben werden Lichter brennen … O Schreckensnacht für die Große Kammer, für die Schreiber, die Büttel, die Advokaten, die Kammerdiener, für die Sekretäre, die Untersekretäre, für alle Plünderer… Doch o Segensnacht, vera beata nox, für alle anderen, denn die Schranken, die so viele von Amt und Ehren ausgeschlossen haben, sind für immer niedergerissen: Von heute an gibt es unter den Franzosen keine anderen Unterschiede mehr als die der Tugend und der Begabung.
In einer dunklen Ecke eines dunklen Schankraums saß Dr. Marat bucklig an einem Tisch. Der 4. August, murrte er, war ein makabrer Witz und sonst nichts.
Er stierte böse auf das Manuskript vor ihm. » Vera beata nox – wenn es doch nur wahr wäre, Camille. Aber Sie mythisieren die Ereignisse, merken Sie das? Sie dichten sie um zur Legende, zu einer Legende der Revolution. Sie wollen eine künstlerische Hand am Werk sehen, wo es nur die Notwendigkeit gibt …« Er brach ab. Sein magerer Körper krümmte sich leicht.
»Sind Sie krank?«
»Sie etwa?«
»Nein, ich habe nur zu viel getrunken.«
»Mit Ihren neuen Freunden, nehme ich an.« Marat rutschte auf seiner Bank nach hinten, immer noch diesen angespannten, schmerzlichen Ausdruck im Gesicht. Dann fasste er Camille bohrend ins Auge; seine Finger trommelten arhythmisch auf die Tischplatte.
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