Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
genießen, aber wenn man ihn zu seiner Haft befragt, weint er. An schlechten Tagen weiß er gar nicht, wer er ist. An guten Tagen hält er sich für Julius Cäsar.
Vernehmung von Desnot, Paris, Juli 1789:
Auf die Frage hin, ob dies das Messer sei, mit dem er den Kopf des Sieur de Launay abgetrennt habe, erklärte er, dazu ein schwarzes, kleineres verwendet zu haben; auf den Einwand, dass es unmöglich sei, mit einem so kleinen und schwachen Werkzeuge einen Kopf abzuschneiden, antwortete er, er als Koch habe gelernt, mit Fleisch umzugehen.
18 . August 1789
Das Astley-Amphitheater, Westminster Bridge
präsentiert
(nach Seiltanz von Signior Spinacuta)
ein völlig neues und unerhörtes Spektakel
DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION
von Sonntag 12. Juli bis Mittwoch 15. Juli (einschl.)
des Titels
PARIS IN AUFRUHR
Eine der größten und atemraubendsten Unterhaltungen,
die die Welt je gesehen hat,
ausschließlich basierend auf
WAHREN BEGEBENHEITEN
Loge 3 s, Parkett 2 s, Galerie 1 s, Seitengalerie 6 d
Einlass ab halb sechs Uhr, Beginn halb sieben Uhr pünktlich.
Camille hatte in der Rue Condé Hausverbot. Nun war er auf Stanislas Fréron angewiesen, damit dieser ihn auf dem Laufenden hielt und seine Gedanken (und Briefe) an Lucile übermittelte.
»Hmm«, sagte ihm Fréron, »wenn ich es richtig deute, dann hat sie dich deiner hehren, vergeistigten Art wegen geliebt. Weil du so feinfühlig warst, so edel. Weil du – wie sie dachte – in höheren Sphären weiltest als wir anderen, die wir aus gröberem Stoff gemacht sind. Und jetzt? Jetzt erweist du dich als die Art Mensch, die mit Schlamm und Blut bespritzt durch die Straßen stürmt und andere zum Gemetzel aufstachelt.«
D’Anton vertrat die These, dass Fréron ihn aus dem Feld zu schlagen versuchte – »wenn nicht so, dann so«. Sein Ton war zynisch. Er zitierte Voltaires Bemerkung über Karnickels Vater: »Würde Fréron von einer Schlange gebissen, wäre es die Schlange, die stürbe.«
In Wahrheit – aber Fréron hütete sich, dies zuzugeben – war Lucile vernarrter in Camille denn je. Claude Duplessis hoffte nach wie vor, wenn er seiner Tochter nur den richtigen Mann zuführte, würde sie schon über ihre Obsession hinwegkommen. Aber es schien ein Ding der Unmöglichkeit, jemanden zu finden, der sie auch nur im entferntesten interessierte; wenn er jemanden für passend erachtete, folgte es zwingend, dass sie dies nicht tat. Alles an Camille faszinierte sie: seine Anrüchigkeit, seine pseudo-naiven kleinen Manierismen, sein sprunghafter Intellekt. Mehr als alles andere jedoch faszinierte sie sein plötzlicher Ruhm.
Fréron als dem alten Hausfreund war die Veränderung bei Lucile nicht entgangen. Aus einem hübschen Mägdlein war eine elegante junge Frau mit politischen Parolen auf den Lippen und einem wissenden Funkeln im Auge geworden. Wird gut im Bett sein, dachte Fréron, wenn’s mal so weit ist. Seine eigene Frau war ein Heimchen am Herd, das in seinem Denken und Handeln kaum vorkam. Nichts ist heute mehr unmöglich, dachte er.
Dumm nur, dass sich Lucile dieser absurden Mode angeschlossen hatte, ihn »Karnickel« zu nennen.
Camille schlief kaum noch: keine Zeit. Wenn er doch schlief, erwachte er gerädert von seinen Träumen. Er träumte unter anderem, die ganze Welt sei zu einem Fest zusammengekommen. Der Schauplatz war bald die Place de Grève, bald Annettes Salon, bald die Grande Salle des Menus Plaisirs. Jeder, aber auch jeder war auf diesem Fest. Angélique Charpentier plauderte mit Hérault de Séchelles; sie verglichen Aufzeichnungen über ihn, brachten seine Lügengebäude zum Einsturz. Sophie aus Guise, mit der er geschlafen hatte, als er sechzehn war, berichtete alles brühwarm Laclos; Laclos hatte sein Notizbuch gezückt, und von hinten drängte Maître Perrin herzu und forderte mit seiner Anwaltsstimme Gehör. Der schmunzelnde, anhängliche Abgeordnete Pétion hatte den toten Kommandanten der Bastille untergehakt, der kopflos an seinem Arm hing. Sein alter Schulfreund Louis Suleau debattierte auf offener Straße mit Anne Théroigne. Fabre und Robespierre spielten dazu ein Kinderspiel: Sooft der Wortwechsel der beiden abbrach, blieben sie steif wie Statuen stehen.
Er hätte sich Sorgen wegen dieser Träume gemacht, aber er war jeden Abend irgendwo eingeladen. Und etwas Wahres enthielten sie in jedem Fall: Alle Menschen aus seinem Leben kamen nun zusammen. »Wie findest du Robespierre?«, fragte er d’Anton.
»Max?
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