Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
jungen Suleau. Aber ich sehe, dass du nicht so bist.«
»Meinen Sie, ich sollte einfach ich selbst sein?«
»Warum nicht?«
»Ich habe im Allgemeinen den Eindruck, dass etwas mehr Anstrengung erwartet wird.« Als der Priester später sein Brevier wieder weglegte, sann er noch etwas über das Gespräch nach. Er dachte: Dieser Junge wird unglücklich werden. Er wird in seine Provinz zurückkehren und es nie zu etwas bringen.
Wir schreiben das Jahr 1774. Ob Poseure oder nicht, es ist an der Zeit, erwachsen zu werden. An der Zeit, ins öffentliche Leben einzutreten, in die Welt der öffentlichen Handlungen und öffentlichen Haltungen. Alles, was von jetzt an geschieht, wird einmal im Licht der Geschichte betrachtet werden. Doch ist es kein helles Mittagslicht, sondern eine Totenkerze für den Intellekt; bestenfalls der Abklatsch von Mondlicht, unzuverlässig, bleich, halbblind.
Camille Desmoulins, 1793: »Es heißt, die Freiheit zu erlangen, sei, wie erwachsen zu werden: Man muss leiden.«
Maximilien de Robespierre, 1793: »Geschichte ist Fiktion.«
2. Leichenkerze
1774–1780
Kurz nach Ostern erkrankte König Louis XV an den Pocken. Von Kindesbeinen an hatten ihn stets Scharen von Höflingen umgeben; sein morgendliches Aufstehen war eine Zeremonie, die einer komplexen und starren Etikette folgte, und wenn er dinierte, tat er es öffentlich, bei jedem Bissen von Hunderten von Menschen begafft, die in einer langen Reihe an ihm vorbeizogen. Jede Stuhlentleerung, jeder Liebesakt, jeder Atemzug war Gegenstand öffentlicher Diskussion – und ebenso sein Tod.
Er musste die Jagd abbrechen, wurde schwach und fiebernd in den Palast zurückgebracht. Er war vierundsechzig, und man ging von Anfang an davon aus, dass er sterben würde. Als der Ausschlag kam, lag er zitternd vor Angst da, denn er wusste selbst, dass er sterben und zur Hölle fahren würde.
Der Dauphin und seine Gattin blieben in ihren Gemächern, da sie befürchteten, sich anzustecken. Als die Pusteln zu eitern begannen, riss man Türen und Fenster auf, doch der Gestank war unerträglich. Für die letzten Stunden übergab man den faulenden Körper den Ärzten und Priestern. Die Kutsche von Mme du Barry, der letzten seiner Mätressen, rollte für immer aus Versailles hinaus; erst wenn sie fort war und er sich ganz allein fühlte, wollten ihm die Priester die Absolution erteilen. Er schickte nach ihr, doch man teilte ihm mit, dass sie bereits gefahren sei. »Jetzt schon«, sagte er.
Der ganze Hof hatte sich in dem riesigen Vorzimmer, dem Œil du Bœuf, versammelt, um der Ereignisse zu harren. Am 10. Mai nachmittags um viertel nach drei wurde die dünne Wachskerze, die im Fenster des Krankenzimmers brannte, ausgelöscht.
Und dann brach plötzlich ein Tosen los wie Donner aus heiterem Himmel – das Trappeln und Trampeln Hunderter Füße. Einmütig und zielstrebig stürmte der Hofstaat aus dem Œil du Bœuf und durch die Grande Galerie, um den neuen König zu suchen.
Der neue König ist neunzehn Jahre alt, seine Gemahlin, die österreichische Prinzessin Marie-Antoinette, ein Jahr jünger. Der König ist ein fülliger, frommer Junge, gewissenhaft und phlegmatisch, den Freuden der Jagd und der Tafel zugetan; man sagt, es sei ihm aufgrund einer schmerzhaft engen Vorhaut nicht möglich, sich der Fleischeslust hinzugeben. Die Königin ist ein egoistisches Mädchen, willensstark und ungebildet. Sie ist blond, von frischem Teint und hübsch, denn mit achtzehn sind fast alle Mädchen hübsch; doch schon jetzt beginnen die habsburgische Unterlippe und der habsburgische Hochmut den positiven Effekt von Seide, Diamanten und Unwissenheit zu konterkarieren.
Man setzt große Hoffungen auf die neue Regentschaft. Ein anonymer Optimist schreibt auf die Statue des großen Henri IV : »Resurrexit«.
Wenn sich der Polizeidirektor an seinen Schreibtisch setzt – heute, letztes Jahr, jedes Jahr –, ist die erste Information, die er einholt, was in den Bäckereien von Paris ein Brot kostet. Ist Les Halles mit ausreichend Mehl versorgt, dann können die Bäcker in Paris und den Vororten ihre Kunden zufriedenstellen, und die tausend Wanderbäcker bringen ihr Brot auf die Märkte im Marais, in St. Paul, im Palais Royal und in Les Halles selbst.
In guten Zeiten kostet ein Brot acht oder neun Sous. Ein ungelernter Arbeiter, der im Tagelohn steht, kann mit zwanzig Sous am Tag rechnen, ein Maurer bekommt vielleicht vierzig, ein guter Schlosser oder Tischler fünfzig. Das muss
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