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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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jeden Abend im Jakobinerclub. Wenn er Zeit hat, schaut er bei den Duplessis’ vorbei, diniert gelegentlich mit Pétion – ein Arbeitsessen. Vielleicht zweimal pro Saison geht er ins Theater, nicht sehr freudig und voll Reue über die verschenkte Zeit. Überall drängen sich die Leute, um ihn abzupassen, vor der Manege, vor dem Club, vor seiner Haustür.
    Jede Nacht ist er erschöpft. Er schläft ein, sobald sein Kopf das Kissen berührt. Sein Schlaf ist traumlos, ein Sturz in die Schwärze, als fiele er in einen Brunnenschacht. Die Nachtwelt ist die reale Welt, denkt er oft; die Morgen mit ihrem Licht, ihrer Frische, scheinen ihm von Schatten bevölkert, von Geistern. Er steht noch im Dunkeln auf, um seinen Vorteil zu wahren.
    William Augustus Miles, Beobachter im Auftrag der Regierung Seiner Majestät des (englischen) Königs:
Der Mann, der in der Nationalversammlung am wenigsten gilt … wird bald am meisten zu sagen haben. Er ist ein strenger, prinzipienstarker Mann, schlicht und uneitel im Auftreten, ohne einen Funken Geckenhaftigkeit und gewisslich über jeder Korruption stehend. Reichtum verachtet er, und ihm ist nichts von der Unbeständigkeit eigen, die für den französischen Charakter so typisch ist. Nichts, was der König zu gewähren hat, vermöchte diesen Mann von seinem Ziel abzubringen. Ich beobachte ihn Abend für Abend genau. Er ist eine Persönlichkeit, mit der unbedingt zu rechnen ist; er gewinnt stündlich an Bedeutung, und befremdlicherweise schätzt die gesamte Konstituante ihn gering und verachtet ihn; als ich prophezeite, dass er schon bald der Mann an der Macht sein werde, der über Millionen gebietet, lachte man mich aus.
    Im Frühling durfte Lucile mit zu Mirabeau, der breitbeinig auf einem erlesenen Perserteppich in einem ansonsten haarsträubend geschmacklosen Raum stand. Er war dünnlippig, pockennarbig, ein Berg von einem Mann. Er taxierte sie. »Ihr Vater ist Beamter, höre ich?«, sagte er. Er beugte sich vor, ein anzügliches Grinsen im Gesicht. »Heißt das, es gibt Sie im Duplikat?«
    Mirabeau schien ihr sämtlichen verfügbaren Sauerstoff aus der Luft zu saugen. Er schien auch Camilles ganzes Hirn aus seinem Schädel zu saugen. Verblüffend, die Zahl der Illusionen, denen Camille sich hinzugeben vermochte: Nein, natürlich wurde Mirabeau nicht vom Hof bezahlt, was für eine Verleumdung. Natürlich war Mirabeau ein standhafter Patriot … Es kam der Tag, da Camille diese exzentrische Fiktion nicht länger aufrechterhalten konnte. Er war dem Suizid nahe. Seine Zeitung war in dieser Woche praktisch nicht existent.
    »Max hat ihn gewarnt«, sagte Adèle, »aber er wollte ja nicht hören. Mirabeau hat diese halbgebildete Österreicher-Metze ›eine große und edle Frau‹ genannt. Und doch ist und bleibt er für das einfache Volk ein Gott. Da sieht man, wie leicht die Menschen irrezuführen sind.«
    Claude stützte den Kopf in die Hände. »Muss das sein, muss das immerfort zu jeder Tages- und Nachtzeit sein, diese Lästerlichkeit und Aufwiegelei aus den Mündern junger Frauen? In unseren eigenen vier Wänden?«
    »Ich dachte«, sagte Lucile, »Mirabeau müsste gute Gründe dafür haben, dass er Verbindung zum Hof hält. Aber jetzt hat er seine Glaubwürdigkeit bei den Patrioten verspielt.«
    »Seine Gründe? Seine Gründe heißen Geldgier und Machtgier. Er will die Monarchie retten, damit sie ihm ewig dankbar und auf immer verpflichtet ist.«
    »Die Monarchie retten?«, sagte Claude. »Wovor? Vor wem?«
    »Vater, der König hat von der Versammlung eine Zivilliste von fünfundzwanzig Millionen verlangt, und diese kriecherischen Dummbärte bewilligen sie auch noch! Und das bei dem Zustand, in dem die Nation sich befindet. Das Mark laugen sie ihr aus den Knochen. Sag selbst: Wie lange kann das noch gehen?«
    Er sah seine Töchter an, versuchte die Kinder in ihnen zu entdecken, die sie einmal gewesen waren. Er hätte betteln mögen, sie beschwören. »Aber wenn wir den König nicht hätten oder Lafayette oder Mirabeau oder die Minister – und ich habe euch über sie alle herziehen hören –, wen gäbe es dann noch, der die Nation lenken könnte?«
    Die Schwestern wechselten Blicke. »Unsere Freunde«, sagten sie.
    Camille attackierte Mirabeau auf dem Papier mit einem Ingrimm, dessen er sich niemals fähig geglaubt hätte. Er war seiner fähig: Kränkung geht ins Blut, Zorn verleiht Flügel. Eine Zeitlang trat Mirabeau noch für ihn ein, verteidigte ihn gegen die Rechten, wenn diese

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