Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
brüsten, ihm bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ein Messer ins Herz stoßen zu wollen. Sie schreiben ihm Briefe, diese Geisteskranken – Briefe, die so irr und so abstoßend sind, dass er sie gar nicht erst liest. Man sieht schon beim Überfliegen, sagt er, was für eine Art Brief es ist. Manchmal erkennt er es bereits an der Schrift auf dem Umschlag. Er hat eine Schachtel, in die wirft er sie hinein. Dann müssen andere sie durchlesen, falls konkrete Drohungen dabei sind – du stirbst da und da, zu der und der Zeit.
Mein Vater ist seltsam. Mindestens zweimal im Monat verbietet er mir, Camille jemals wiederzusehen. Aber jeden Morgen greift er gleich als Erstes nach der Zeitung – »irgendwelche Neuigkeiten?« Hofft er zu lesen, dass Camille mit durchgeschnittener Kehle am anderen Seineufer gefunden worden ist? Ich glaube nicht. Ich glaube, mein Vater hätte keinerlei Spaß mehr am Leben, wenn Camille nicht wäre. Meine Mutter zieht ihn kaltblütig damit auf: »Gib’s zu, Claude«, sagt sie. »Er ist der Sohn, den du nie hattest.«
Claude bringt junge Männer zum Abendessen mit heim. Männer, von denen er denkt, sie könnten mir gefallen. Beamte. Du lieber Himmel.
Manchmal schreiben sie mir Gedichte, putzige Beamten-Sonette. Adèle und ich lesen sie uns mit dem passenden süßlichen Ausdruck vor. Wir verdrehen die Augen himmelwärts, pressen die Hände an den Busen, seufzen. Dann falten wir sie zu Papierfliegern und bewerfen uns damit. Wir sind ausgelassen, wie man sieht. Wir verbringen unsere Tage in einem ungesunden Übermut. Entweder das – oder es ist ein fortwährendes Geschniefe und Geschluchze, eine einzige Flut von bösen Ahnungen und Ängsten. Wir halten uns lieber an den Übermut. Wir halten uns lieber an unsere makabren Scherze.
Meine Mutter dagegen ist angespannt, bedrückt, aber im Grunde glaube ich, dass sie weniger leidet als ich. Wahrscheinlich, weil sie älter ist, weil sie es gelernt hat, mit ihren Gefühlen zu haushalten. »Camille überlebt das schon«, sagt sie. »Was meinst du, warum er sich mit so großen, starken Männern umgibt?« Aber es gibt Flinten, wende ich ein, es gibt Messer. »Messer?«, sagt sie. »Wie soll denn jemand mit einem Messer an M. Danton vorbeikommen? Sich durch diese Massen an Muskeln und Fleisch hacken?« Das würde voraussetzen, sage ich, dass er sich dazwischenwirft. Und sie: »Ist Camille kein Experte darin, Menschenopfer einzufordern? Ich meine«, sagt sie, »schau mich an. Schau dich an.«
Wir rechnen jetzt jederzeit mit Adèles Verlobung. Max war hier und hat den Abbé Terray in den Himmel gehoben. Viel von dem, was der Abbé geleistet habe, sagte er, sei von der Allgemeinheit nicht verstanden worden. Claude stört sich folglich nicht mehr daran, dass Max nur sein Abgeordnetengehalt hat und davon einen jüngeren Bruder und eine Schwester ernähren muss.
Was für ein Leben wohl auf Adèle wartet? Auch Robespierre erhält Briefe, aber ganz andere als Camille. Sie kommen aus der ganzen Stadt; es sind Briefe von kleinen Leuten, die mit der Obrigkeit in Konflikt geraten sind oder anderweitig in Schwierigkeiten stecken und nun denken, er kann sich ihrer Sache annehmen und alles in Ordnung bringen. Er muss um fünf Uhr morgens aufstehen, um alle diese Briefe zu beantworten. Manchmal fürchte ich, seine Ansprüche, was den häuslichen Komfort angeht, sind äußerst niedrig. Sein Bedarf an Erholung, Unterhaltung, Zerstreuung scheint gleich null zu sein. Bleibt die Frage: Wie wird das Adèle gefallen?
ROBESPIERRE : Es ist nicht nur Paris, das bedacht sein will. Aus dem ganzen Land treffen Briefe ein. Provinzstädte haben ihre Jakobinerclubs gegründet, und der Korrespondenzausschuss des Pariser Clubs schickt ihnen neueste Nachrichten, Bewertungen, Direktiven; sie schreiben zurück, und wen unter ihren Pariser Brüdern haben sie zu besonderem Lob und Dank auserkoren? Den Deputierten Robespierre. Welch ein Gefühl nach den Hetzreden der Royalisten! In seinem Exemplar des Gesellschaftsvertrags bewahrt er den Brief eines jungen Picarden auf, eines Enthusiasten mit Namen Antoine Saint-Just: »Ich erkenne Dich, Robespierre, wie ich Gott erkenne: durch Deine WERKE .« Wenn er, wie dies neuerdings häufig der Fall ist, an Kurzatmigkeit und Beklemmungsgefühlen leidet oder seine Augen zu müde sind, um die Buchstaben auf der Seite scharf zu sehen, spornt der Gedanke an diesen Brief das schwache Fleisch zu neuen WERKEN an.
Jeden Tag spricht er in der Versammlung,
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