Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
ihn mundtot zu machen versuchten. »Mein armer Camille«, nannte er ihn. Nach einer Weile reihte er sich dann unter seine Feinde ein. »Ich bin ein wahrer Christ«, sagte Camille. »Ich liebe meine Feinde.« Und in der Tat gaben ihm seine Feinde Profil. Durch ihre Augen sah er seine Ziele definiert.
Der Bruch mit Mirabeau brachte ihn Robespierre näher. Das bedeutete einen anderen Lebensstil – Abende am Schreibtisch zwischen Bergen von Akten, Stille, die nur von einem gelegentlichen gemurmelten Nachfragen unterbrochen wurde, dem Kratzen von Federn, dem Schlagen der Uhr. Um mit Robespierre zusammen zu sein, musste Camille sich in Gesetztheit hüllen wie in einen Wintermantel. »Er ist all das, was ich sein sollte«, erklärte er Lucile. »Max schert sich nicht um Scheitern oder Erfolg, in seinem Innern läuft es alles aufs Gleiche hinaus. Es schert ihn nicht, wie andere von ihm sprechen oder was sie von seinem Vorgehen halten. Solange sich nur das, was er tut, für ihn richtig anfühlt – das reicht ihm, das ist seine Richtschnur. Er gehört zu den wenigen, den ganz wenigen Männern, für die das einzig Ausschlaggebende ihr eigenes Gewissen ist.«
Und das, nachdem gerade einen Tag vorher Danton zu ihr gesagt hatte: »Ah, Maximilien – der Junge ist zu gut, um wahr zu sein. Ich werde nicht schlau aus ihm.«
Aber immerhin hatte Robespierre hinsichtlich Mirabeau recht behalten. Egal, was man von ihm hielt, man musste zugeben, dass er fast immer recht hatte.
Im Mai verließ Théroigne Paris. Sie hatte kein Geld, und sie war es leid, sich von den Royalistenblättern als Hure beschimpfen zu lassen. Eins nach dem anderen waren die trüben Kapitel ihrer Vergangenheit durchleuchtet worden. Ihre Zeit in London mit einem verarmten Lord. Ihre deutlich lukrativere Beziehung zum Marquis de Persan. Ihr Genua-Aufenthalt mit einem italienischen Sänger. Die leichtfertigen Wochen, als sie neu in Paris war und sich überall als die Comtesse de Campinado vorstellte, eine feine Dame, die schwere Zeiten durchmacht. Nichts Kriminelles, nichts haarsträubend Abwegiges, nur das, was jeder täte, wenn Not am Mann ist. Nun aber gab es sie dem Hohn und der Lächerlichkeit preis. Wessen Leben, fragte sie sich beim Packen, hielte einer derart eingehenden Musterung stand? Sie plante, in ein paar Monaten zurück zu sein. Bis dahin würde sich die Presse neue Zielscheiben gesucht haben, dachte sie.
Sie riss eine Lücke, wie auch nicht? Sie war zum Inventar geworden – in ihrem scharlachroten Umhang oben auf der Galerie in der Manege, umringt von ihrer Claque; mit der Pistole im Gürtel durch das Palais Royal stürmend. Dann sprach sich herum, dass sie aus ihrem Elternhaus in Lüttich verschwunden sei; ihre Brüder glaubten, sie sei mit einem Mann durchgebrannt, aber schon bald begannen Gerüchte zu kursieren, denen zufolge sie entführt worden war: die Österreicher hätten sie, hieß es.
Sie durften sie gern behalten, fand Lucile. Sie war eifersüchtig auf Théroigne. Woher nahm sie das Recht, sich wie ein Mann aufzuführen – bei den Cordeliers zu erscheinen und das Wort zu verlangen? Danton schäumte vor Wut über sie. Es war drollig zu sehen, in welche Rage es ihn versetzte. Für ihn hatten Frauen zu sein wie die Damen an der Tafel des Herzogs: Agnès de Buffon, die ihm die lachhaftesten Schmachtblicke zuwarf, und diese blonde Engländerin Grace Elliot mit ihren geheimnisvollen politischen Verbindungen und ihrer mechanischen, wimpernklimpernden Koketterie. Lucile war beim Herzog zu Gast gewesen, sie hatte Danton dort beobachtet. Er wusste im Zweifelsfall, was da gespielt wurde – wusste, dass diese Frauen, die Laclos ihm unter die Nase hielt, Köder waren. Die Kupplerin selbst, Félicité, überließ er Camille. Camille hatte nichts gegen Frauen, mit denen man geistreiche Unterhaltungen führen musste. Er schien sogar Spaß daran zu finden. Eine seiner Perversionen, sagte Danton.
In diesem Sommer kam Camilles Lieblingsfeind aus der Schulzeit, Louis Suleau, nach Paris. Er wurde als Gefangener aus der Picardie überführt, um sich wegen volksverhetzender, antikonstitutioneller Schriften zu verantworten. Sein Aufwieglertum war anderer Art als Camilles: Er war ein größerer Royalist als der König selbst. Louis wurde freigesprochen; am Abend seiner Freilassung stritten er und Camille die Nacht durch. Es war ein Streit auf höchstem Niveau – ausgesprochen wortgewandt, ausgesprochen gebildet, ganz im Geiste Voltaires. »Ich darf Louis
Weitere Kostenlose Bücher