Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
schieben es auf meine cholerische Veranlagung und verschreiben mir Kompressen. Wissen Sie, woran ich dieser Tage immer denken muss, Danton?«
»Sie sollten sich ausruhen, setzen Sie sich doch wenigstens hin.« Danton merkte, dass er mit ihm unwillkürlich wie mit einem Kind oder einem alten Mann sprach.
»Ich brauche nicht zu sitzen, hören Sie mir einfach nur zu.« Er legte Danton die Hand auf den Arm. »Ich muss an den Tod des alten Königs denken. Als er starb, so heißt es«, er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, »fand sich niemand, der bereit war, den Leichnam herzurichten. Der Gestank war so bestialisch und der Anblick so grässlich … Kein Angehöriger wollte die Ansteckung riskieren, und die Dienstboten weigerten sich schlichtweg. Schließlich heuerten sie irgendwelche armen Arbeitsleute an, zahlten ihnen was weiß ich dafür – und die legten ihn in den Sarg. So endet ein König. Es heißt, dass einer der Männer starb, keine Ahnung, ob das stimmt. Als der Sarg in die Krypta gebracht wurde, stand das Volk am Straßenrand, ausspuckend und Verwünschungen rufend. ›Da geht er hin, der Schwarm aller Frauen!‹, sagten sie.« Er hob sein erbostes Gesicht zu Danton auf. »Mein Gott, und da halten sie sich für unverwundbar! Weil sie von Gottes Gnaden regieren, meinen sie, Gott in der Tasche zu haben. Sie missachten meinen Rat, meinen ehrlichen, durchdachten, wohlmeinenden Rat; ich will sie retten, ich, der einzige Mensch, der das kann. Sie meinen, sie könnten alle Vernunft fahren lassen, allen gesunden Menschenverstand …« Mirabeau sah alt aus; sein narbiges Gesicht war rot vor Empörung, aber unter der Röte aschfahl. »Und ich bin so todmüde, Danton. Meine Zeit ist abgelaufen, wenn ich an schleichende Gifte glauben würde, dann würde ich denken, jemand hätte mich vergiftet, denn es fühlt sich an wie der Tod auf Raten.« Er blinzelte. In seinem Auge stand eine Träne. Dann schüttelte er sich wie ein großer Hund. »Grüßen Sie mir Ihre liebe Frau. Und den armen kleinen Camille. Arbeit«, sagte er zu sich. »Wieder an die Arbeit.«
Am 27. März brach der ehemalige Comte de Mirabeau unter rasenden Schmerzen zusammen und wurde in sein Haus in der Rue Chaussée-de-l’Antin gebracht. Als er am 2. April um halb neun morgens starb, war er ohne Bewusstsein.
Camille hatte sich hinter einem Bücherhaufen auf der blauen Chaiselongue verschanzt, die langen Beine hochgezogen, wie um sich möglichst nachdrücklich von Luciles Teppichgeschmack zu distanzieren. Es war später Nachmittag. Draußen dämmerte es, die Straße lag nahezu verlassen. Zum Zeichen des Respekts waren die Geschäfte heute geschlossen geblieben. Das Begräbnis war für den Abend angesetzt, bei Fackelschein.
Er war bei Mirabeau gewesen. Er leidet große Schmerzen, hatte es geheißen, Sie können nicht zu ihm. Er hatte gebettelt: ganz kurz nur, bitte. Tragen Sie sich in das Genesungsbuch ein, sagte man ihm. Da, bei der Tür.
Dann einer der Genfer, en passant, zu spät: »Ganz zum Schluss hat Mirabeau noch nach Ihnen gefragt. Aber wir mussten ihm sagen, dass Sie nicht da sind.«
Der Hof hatte sich zweimal täglich durch einen Boten erkundigt: Als Mirabeau noch hätte helfen können, war kein Bote für ihn gekommen. Alles vergessen jetzt, der Argwohn, die Ausflüchte, die Arroganz; die fordernde Hand des Egomanen, die schwer auf der Zukunft der Nation lag und die Umstände durchsortierte wie einen Packen speckiger Schuldscheine. Fremde sprachen sich auf der Straße an, um einander ihres Kummers und ihrer Zukunftsängste zu versichern.
Auf Camilles Schreibtisch ein wild bekritzeltes Blatt, nahezu unlesbar. Danton hob es auf. »›So geh, hirnloses Volk, und wirf dich in den Staub vor dem Grabmal dieses Gottes‹ – was heißt das danach?«
»Dieses Gottes der Lügner und Diebe.«
Danton ließ das Blatt bestürzt los. »Das kannst du nicht schreiben. Sämtliche Zeitungen landesweit ergehen sich in Lobeshymnen. Barnave, der sein geschworener Gegner war, hat ihn bei den Jakobinern in den Himmel gehoben. Die Kommune und die ganze Nationalversammlung gehen nachher bei seinem Leichenzug mit. Seine erbittertsten Feinde preisen ihn. Camille, wenn du das schreibst, wirst du in Stücke gerissen, wenn du dich das nächste Mal in der Öffentlichkeit zeigst. Und ich meine das nicht im übertragenen Sinn.«
»Ich kann schreiben, wozu ich Lust habe«, fuhr Camille ihn an. »Die Gedanken sind frei. Auch wenn der Rest der Welt aus Heuchlern und
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