Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
»Er schmiedet schon neue Pläne. Das Schlimmste liegt hinter euch.« Die Tränen wollten nicht versiegen. »Du bist in der Hoffnung, nicht wahr?«, sagte Angélique. Sie hielt ihre schluckende, schniefende Tochter fest an die Brust gedrückt, strich ihr übers Haar und fühlte Gabrielles Wange unter ihrer Hand brennen wie im Fieber. Ausgerechnet jetzt, dachte sie. Der kleine Antoine begann zu weinen. Draußen auf der Terrasse konnte sie die Männer lachen hören.
Galgenhumor, nahm sie an – denn außer Georges, auf den immer Verlass war, hatte keiner von ihnen Appetit. Die Ente blieb nahezu unberührt, die Sauce gerann, das Gemüse erkaltete in seinen Schüsseln. Fréron kam als Letzter an; er war ein Nervenbündel, zerschunden, zitternd, wirr. Alkohol musste her, ehe ihm seine Geschichte entlockt werden konnte. Er war auf dem Pont-Neuf festgehalten und niedergeschlagen worden. Ein paar Männer aus dem Cordeliers-Bataillon waren zufällig vorbeigekommen. Sie hatten ihn erkannt, sich ins Getümmel geworfen und für Ablenkung gesorgt, sodass er davonhumpeln konnte. Andernfalls, sagte er, wäre er jetzt tot.
»Hat jemand Robespierre gesehen?«, fragte Camille. Kopfschütteln ringsum. Camille nahm ein Tischmesser und fuhr nachdenklich mit dem Finger über die Schneide. Lucile war in der Rue Condé, nahm er an; bestimmt war sie nicht allein in der Wohnung geblieben, dazu war sie zu klug. Wir müssen endlich eine Entscheidung wegen dieser Tapete treffen, hatte sie vorgestern gesagt: Sollen wir Gittermuster nehmen? Er hatte gesagt, Lucile, stell mir eine echte Frage . Jetzt schien ihm, dass dies die echte Frage war. »Ich gehe zurück nach Paris«, sagte er und stand auf.
Eine kurze Stille trat ein. »Warum gehst du nicht einfach in die Küche und schneidest dir die Kehle durch?«, erkundigte sich Fabre. »Dann vergraben wir dich im Garten.«
»Also wirklich, Camille«, sagte Angelique vorwurfsvoll. Sie lehnte sich über den Tisch und nahm sein Handgelenk.
»Für eine Rede nur«, sagte er. »Vor den Jakobinern – soweit noch welche übrig sind. Einfach, um unsere Linie festzulegen. Ein bisschen Kontrolle zurückzugewinnen. Außerdem muss ich meine Frau suchen, und ich muss Robespierre suchen. Bevor etwas schiefgehen kann, bin ich schon wieder weg. Ich kenne Marats Fluchtwege.«
Sie starrten ihn an, sprachlos, mit offenen Mündern. Wer machte sich im Alltag schon klar, dass dies der Mann war, der im Palais Royal die Polizei in Schach gehalten hatte, der mit einer Pistole gefuchtelt und gedroht hatte, sich zu erschießen? Selbst ihm fiel es schwer, sich das klarzumachen – im Alltag. Aber jetzt wehte ein anderer Wind. Jetzt war er der Laternenanwalt. Er hatte seine Rolle zu spielen, seine Aufgabe zu erfüllen, er würde nicht stottern, solange er sich nur an seinen Text hielt. »Ein Wort unter vier Augen«, sagte Danton mit einer Kopfbewegung in Richtung Terrassentür.
»Geheimnisse unter Brüdern?«, fragte Fréron neckisch.
Niemand antwortete ihm. Stumm, wie es die allgemeine Bedrücktheit gebot, begann Angélique das Geschirr zusammenzuräumen. Gabrielle murmelte etwas und schlüpfte aus dem Zimmer.
»Wo wirst du hingehen?«, fragte Camille.
»Arcis.«
»Da werden sie dich suchen.«
»Ja.«
»Wohin also von dort?«
»England.«
»Und wann kommst du wieder?«
»Sobald es …« Danton unterdrückte einen Fluch. »Seien wir ehrlich, möglicherweise nie. Geh nicht nach Paris zurück. Bleib heute Nacht hier – wir müssen es riskieren, weil wir den Schlaf brauchen. Schreib deinem Schwiegervater, bitte ihn, deine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Hast du dein Testament gemacht?«
»Nein.«
»Dann mach es jetzt und schreib an Lucile. Sobald es morgen hell wird, machen wir uns auf den Weg nach Arcis. Da bleiben wir eine Woche oder so, bis es sicher ist, in Richtung Küste aufzubrechen.«
»Mit meinen Geographiekenntnissen ist es nicht sehr weit her«, sagte Camille, »aber wäre es nicht sinnvoller, von hier aus zur Küste zu reisen?«
»Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern. Schriftstücke unterzeichnen.«
»Sehr wichtig, wenn du ohnehin nicht zurückkommst.«
»Fang jetzt nicht an herumzudiskutieren. Die Frauen können nachkommen, sobald es sich einrichten lässt. Zur Not kannst du sogar deine Schwiegermutter einreisen lassen, wenn du ohne sie nicht leben kannst.«
»Und glaubst du, die Engländer werden uns freudig aufnehmen? Glaubst du, sie empfangen uns in Dover mit Staatsbankett und
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