Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
erschöpft, zu Tode erschöpft, und hielt nur mit Mühe den Kopf hoch.
Wie unterschiedlich die Leute die Dinge sahen! Durch alle Wehen hindurch hatte ihre Mutter ihre Hände gehalten – hatte grimassiert unter ihrem eisernen Griff und gesagt, tapfer sein, Lucile, du musst tapfer sein. Von der Hebamme hieß es: Schreien Sie nur tüchtig, Kindchen, schreien Sie den Putz von den Wänden, wenn Sie möchten. Das bisschen Gips wird Ihr Mann sich wohl noch leisten können. Man kann es nicht allen recht machen. Sooft sie zu einem Schrei ansetzte, brach schon die nächste Schmerzwelle über sie herein, sodass sie keine Luft mehr bekam. Gabrielle Danton hatte sich über sie gebeugt und irgendetwas gesagt, etwas Vernünftiges zweifellos – und war nicht zwischendrin auch Angélique dagewesen und hatte italienische Zaubersprüche gemurmelt? Aber Minuten am Stück, oder jedenfalls viele Sekunden auf einmal, hätte sie nicht zu sagen gewusst, wer im Raum war und wer nicht. Sie hatte in einer anderen Welt gelebt, einer unerbittlichen Welt mit blutroten Wänden.
Camille unterdessen verbannte die Ereignisse des Morgens langsam und planvoll in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses. Während er das zerbrechliche Bündel Mensch an seiner Schulter hielt, hauchte er ihm Versprechungen ins Ohr: Ich will sehr, sehr lieb zu dir sein; ganz egal, auf was für verrückte oder dumme Ideen du verfällst, ich will niemals mit dir schimpfen. Claude beäugte das Neugeborene aus sicherer Entfernung – wenn Camille es ihm nur nicht hinhielt! »Wem er wohl ähnlich sehen wird?«, fragte er.
»Darauf werden hohe Summen gewettet«, sagte Camille.
Claude schluckte den bewegten Glückwunsch, den er dem Schwiegersohn hatte aussprechen wollen, wieder hinunter.
»Warum stürzen wir Louis nicht einfach am 14. Juli?«, regte der gewesene Herzog von Orleáns an.
»Hmm«, machte der gewesene Graf von Genlis. »Ein Mann der sentimentalen Gesten. Ich kann ja Camille fragen, ob er so nett sein möchte, es zu arrangieren.«
Der Herzog hatte wenig Sinn für Sarkasmus. Er stöhnte. »Jedes Mal, wenn du mit Camille redest, kostet mich das ein kleines Vermögen.«
»Man weiß nie, wo die Habgier anfängt. Wie viel hast du Danton über die letzten drei Jahre gezahlt?«
»Woher soll ich das wissen? Aber wenn es noch einmal fehlschlägt, übersteigt selbst der kleinste Krawall meine Mittel. Wenn Louis weg ist – meinst du, sie prellen mich wieder um den Thron?«
De Sillery hätte ihn gern daran erinnert, dass er seine Chance auf den Thron beim letzten Mal selbst verspielt hatte (auf Anraten meiner Frau Félicité, der Kupplerin!); aber Félicité und ihre Tochter Pamela waren im letzten Herbst von dem beflissenen, allzeit bereiten Jérôme Pétion wohlbehalten über den Ärmelkanal geleitet worden. »Lass mich überlegen«, sagte er. »Hast du die Brissotisten gekauft, die Rolandisten, die Girondisten?«
»Gibt es da einen Unterschied?« Philippe machte ein bestürztes Gesicht. »Ich dachte, das wäre alles dasselbe.«
»Bist du ganz sicher, dass du Georges Danton mehr bietest als der Hof? Mehr, als er aus einer Republik herausschlagen kann?«
»Ist es so weit gekommen?« Der Herzog klang angeekelt; einen Moment lang vergaß er ganz, dass er selbst nicht zu knapp dazu beigetragen hatte.
»Ich will dich ja nicht entmutigen, aber wenn ich recht informiert bin, ist Danton dafür, auf die Freiwilligen aus Marseilles zu warten.«
Es sind wackere, handverlesene Patrioten, diese Männer aus Marseilles, die zu den Bastille-Feierlichkeiten nach der Hauptstadt marschieren; sie singen ihr neues, patriotisches Lied beim Marschieren, ihre Mienen sind entschlossen, ihr Plan steht fest. Eine prächtige Speerspitze für die Sektionen, wenn die Zeit reif ist.
»Die Männer aus Marseilles … Wen bezahle ich da?«
»Einen jungen Politiker von dort unten, der Charles Barbaroux heißt.«
»Wie viel wird er verlangen? Können wir ihn bekommen?«
»O du mein Gott.« De Sillery schloss die Augen. Er fühlte sich ausgelaugt. »Er ist seit dem 11. Februar in Paris. Am 24. März hat er sich mit den Rolands getroffen.« Laclos hätte ein kleines Dossier über Barbaroux gehabt, hätte seine wachsende Großmannssucht vermerkt und ihn auf seiner Liste von Schürzenjägern geführt, mit einem Sternchen zur Hervorhebung. »Fragst du dich eigentlich manchmal, ob es der Mühe wert ist?«
Die Frage überforderte Philippe. Alles hatte der Mühe wert geschienen, jede Schliche,
Weitere Kostenlose Bücher