Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
sie machte sich schwer. Als er sie von der Tür wegdrängte, löste sich das Fichu um ihre Schultern und rutschte zu Boden. Was konnte sich Mme Duplays Schneiderin dabei nur gedacht haben?, fragte er sich. Ein so üppig schwellender weißer Jungmädchenbusen … »Schauen Sie«, sagte sie, »wie aufgelöst ich bin.« Sie bekam seine Hand zu packen und hielt sie an ihre entblößte Halsgrube. Er fühlte den Puls unter ihrer Haut jagen. » Jetzt haben Sie mich berührt«, sagte sie. Ihre Miene reizte ihn zur Gewalt. Er hätte sie schlagen mögen. Dann würde sie losschreien. Lieber Gott, ich muss die Leute vor ihr warnen, dachte er. Er machte eine innere Liste der Leute, die er warnen sollte.
»Worauf warten Sie?«, fragte sie. »Es ist sicher hier drin. Die Tür hat einen Riegel. Sie brauchen nicht an sich zu halten.«
Er hob das Fichu vom Boden auf und legte es ihr mit einer Hand wieder um die Schultern, während er sie mit der anderen festhielt, die Finger in ihren Arm gebohrt, gleich über dem Ellbogen. »Ich rufe Ihre Schwestern«, sagte er. »Vielleicht ist Ihnen nicht wohl.«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. »Sie tun mir weh«, sagte sie schwach.
»Nein, tu ich nicht. Stecken Sie sich die Haare hoch.«
Seltsam, der Ausdruck, der sich auf ihren Zügen abzeichnete – nicht Enttäuschung, nicht Zorn, sondern Empörung. Sie riss sich von ihm los und stürzte zum Fenster. Ihr Gesicht war glutrot, ihr Atem ging in tiefen, keuchenden Stößen. Er trat hinter sie und schüttelte sie leicht. »Hören Sie auf. Das ist nicht gut, Sie werden noch ohnmächtig.«
»Ja, und Sie dürfen erklären, warum! Oder ich rufe jetzt gleich. Kein Mensch würde Ihnen glauben.«
Unten im Hof waren die Sägegeräusche verstummt, die Männer schauten alle zum Haus hoch. Camille sah ihre Gesichter nur verschwommen, aber er konnte sich die gefurchten Stirnen bestens vorstellen. Jetzt ging Maurice Duplay in Richtung Wohnhaus, und Augenblicke später hörte er eine erhobene Frauenstimme, die scharf etwas fragte – Duplays Stimme, gedämpft, aber dringlich – einen hohen, spitzen Aufschrei – dann Schritte, Schritte, die die Treppe heraufkamen.
Ihn fröstelte. Sie kann sagen, was immer sie will, dachte er, man wird ihr glauben. Unter dem Fenster nun fast eine kleine Menschenmenge. Sämtliche von Duplays Leuten, und alle mit nach oben gewandten Gesichtern, auf denen er etwas wie Erwartung zu erkennen meinte.
Die Tür flog auf. Maurice Duplay füllte sie ganz aus, ein kraftstrotzender Handwerksmeister mit hochgekrempelten Ärmeln. Er breitete die Arme aus, der brave Jakobiner Duplay, und sprach einen völlig unverhofften Satz, einen Satz, wie er in der Geschichte der Welt noch nie vernommen worden war: »Camille, Sie haben einen Sohn, und Ihre Frau ist wohlauf und möchte, dass Sie auf dem schnellsten Weg nach Hause kommen.«
Ein Meer lächelnder Gesichter vor der Tür. Camille stand da und versuchte seine Angst zu bezwingen. Du brauchst nicht zu sprechen, sagte ihm eine innere Stimme, sie werden denken, du bist sprachlos vor Überraschung und Freude. Elisabeth hatte sich weggedreht. Mit flinken, unauffälligen Bewegungen ordnete sie ihre Kleider. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie leichthin. »Was für ein stolzer Tag für Sie.«
»Maximilien hat ein Patenkind«, verkündete Mme Duplay strahlend. »Und wenn es dem Himmel gefällt, wird er eines Tages ein prächtiges eigenes Söhnchen bekommen.«
Maurice Duplay zog Camille an seine Brust, eine schreckliche, markige Jakobinerumarmung, Patrioten unter sich. Während sein Gesicht an Duplays fleischiger Schulter lag, probierte Camille im Schutz der feuchten, weißen, von dem groben Leinenstoff nur dürftig bedeckten Haut folgenden Satz aus: Ihre jüngste Tochter ist eine praktizierende Vergewaltigerin. Nein, dachte er. Völlig undenkbar. Am besten, ich verrate es keiner Menschenseele, ich würde ja doch nur ausgelacht werden. Am besten, ich laufe schnurstracks heim zu Lucile und bin ab sofort sehr, sehr vorsichtig und sehr, sehr tugendhaft.
Der erste Trost war, dass es weniger lange gedauert hatte als vorausgesagt – zwölf Stunden von den ersten Wehen an –, und der zweite war dieses winzige schwarzhaarige Kind, das nun in ihrem Arm lag. Es löste einen Ansturm der Liebe in ihr aus, einer so überwältigenden, reinen Liebe, dass sie kaum sprechen konnte. Vor allem warnen sie einen, dachte sie, aber davor warnt einen niemand. Auch so konnte sie kaum sprechen; sie war
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