Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
schick mir Nachricht.«
Camille blieb allein zurück. Was für sonderbare Wendungen Gespräche doch manchmal nahmen, dachte er. Er sah sich in Robespierres Zimmer um. Es war schlicht und recht klein, mit dem harten Bett eines Menschen, dem an Schlaf nicht viel liegt, und einem einfachen, akkurat aufgeräumten Weißholztisch, der Robespierre als Schreibtisch diente. Ein einziges Buch lag darauf – das kleine Exemplar von Rousseaus Gesellschaftsvertrag , das Robespierre immer in der Innentasche seines Rockes stecken hatte. Heute hatte er es vergessen. Er war aus dem Tritt geraten, aus seinem gewohnten Takt gebracht.
Er nahm das Büchlein und betrachtete es genauer. Irgendeinen Zauber musste es für Robespierre haben, dass es nur dieses Exemplar sein durfte und kein anderes. Ihm kam eine Idee. Er schwenkte das Buch vor einer imaginären Zuhörerschaft. Er sagte mit Robespierres artesischem Zungenschlag: »Die Kugel des Meuchelmörders flog direkt auf mein Herz zu, doch dieses Exemplar des Gesellschaftsvertrags hat mir das Leben gerettet. Seht, Patrioten, wie das todbringende Geschoss abprallte an dem unsterblichen billigen Leineneinband der unsterblichen Worte des unsterblichen Jean-Jacques. Der gestrickte Gott …« Er wollte auf die Komplotte zu sprechen kommen, die die Nation bedrohten, Komplotte, Komplotte, Komplotte, Komplotte, Komplotte, aber auf einmal war ihm so schwach und zittrig zumute, dass er sich lieber hinsetzte. Er zog einen Stuhl mit geflochtener Sitzfläche an den Tisch. Der Stuhl glich aufs Haar dem, auf den er geklettert war, als er zu den Menschenmassen im Palais Royal gesprochen hatte. Mit so einem Stuhl könnte ich nicht leben, dachte er. Er würde mich zu sehr ängstigen.
Er hatte eine Rede zu schreiben. Welch ungeheure Selbstdisziplin, dachte er, wenn ich ein paar Zeilen dafür zu Papier brächte – aber wie soll das gehen? Er stand auf und stellte sich ans Fenster. Maurice Duplays Gehilfen waren unten im Hof bei der Arbeit. Als sie ihn oben am Fenster sahen, hoben sie grüßend die Hand. Er konnte hinuntergehen, um mit ihnen zu plaudern, aber dabei lief er vielleicht Eléonore in die Arme. Oder Mme Duplay, und dann musste er mit ihr in ihrer guten Stube sitzen und Konversation mit ihr treiben und ihr Essen essen. Ihm graute vor dieser Stube mit ihren schweren Mahagoni-Ungetümen – das Wort Möbel war zu gut dafür – und den Portieren aus weinrotem Utrechter Samt, den altmodischen Tapeten und dem Kachelofen, der eine abgasgeschwängerte Hitze verströmte. Es war ein Zimmer, in dem einem jegliche Hoffnung abhandenkommen konnte; er stellte sich vor, wie er ein tiefrotes Kissen nahm und es mit fester Hand auf Eléonores Gesicht drückte.
Er schrieb. Er brachte einen Absatz zustande. Er strich ihn wieder aus. Er fing von vorn an. Irgendwie verstrich die Zeit. Dann ein leises Kratzen an der Tür: »Camille, darf ich hereinkommen?«
»Nur zu.«
Oh, warum war er so? So angespannt.
Elisabeth Duplay. »Arbeiten Sie?«
Er legte die Feder beiseite. »Ich muss eigentlich eine Rede schreiben, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Frau …«
»Ich weiß.« Behutsam schloss sie die Tür hinter sich. Babette. Die Gänsemagd. »Soll ich dann vielleicht bleiben und ein bisschen mit Ihnen plaudern?«
»Das«, sagte Camille, »wäre sehr nett.«
Sie lachte. »Ah, Camille, wie griesgrämig Sie sind. Sie fänden es nicht nett, Sie haben Angst, dass Sie sich langweilen würden.«
»Wenn ich dächte, ich langweile mich, dann würde ich es sagen.«
»Alle finden Sie so charmant, aber bei uns ist davon nicht viel zu merken. Zu meiner Schwester Eléonore sind Sie auf jeden Fall gar nicht charmant. Wobei ich zugeben muss, dass es mich auch oft juckt, grob zu Eléonore zu sein, aber ich bin die Jüngste, und wir in unserer Familie sind dazu erzogen, den Älteren mit Respekt zu begegnen.«
»Sehr richtig«, sagte Camille, ohne eine Miene zu verziehen. Er verstand nicht, warum sie immerzu lachte. Dann plötzlich verstand er es. Sie war recht hübsch, wenn sie lachte. Überhaupt war sie recht hübsch. Eine entschiedene Verbesserung gegenüber ihren Schwestern.
Sie setzte sich auf die Bettkante. »Max redet sehr viel von Ihnen«, sagte sie. »Ich würde Sie gern besser kennenlernen. Ich glaube, Sie sind der Mensch, der ihm von allen der liebste ist. Dabei sind Sie beide so grundverschieden – was glauben Sie also, woran es liegt?«
»Es kann nur an meinem Charme liegen«, sagte Camille. »Eine
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