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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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interessiert vielleicht, aber nicht im Bilde; im Bilde vielleicht, aber nicht interessiert; interessiert, aber zu ängstlich, um etwas zu unternehmen. Und überhaupt, was zählt Roland schon? Noch eine drängende Entscheidung, und der Mann stirbt am Herzinfarkt.
    »Zu unseren Listen«, sagt Bürger Hébert.
    Die Listen sind sehr lang. In den Gefängnissen sitzen an die zweitausend Menschen; genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, die Dunkelziffer ist hoch. Alle, die von den Listen gestrichen werden, kommen noch heute Nacht auf freien Fuß; die anderen müssen auf die Barmherzigkeit ihrer spontan ernannten Richter hoffen.
    Sie kommen zu einem Priester, einem gewissen Bérardier. »Freispruch«, bestimmt Camille.
    »Ein eidverweigernder Priester, der …«
    »Freispruch«, wiederholt Camille störrisch. Sie zucken mit den Schultern, setzen den Stempel darunter. Camille ist unberechenbar, es ist unklug, ihn zu sehr aufzubringen; außerdem kann man nie wissen, ob nicht doch einer von ihnen für die Regierung spioniert. Danton hat seine eigene Liste von Gefangenen geschrieben, die freikommen sollen, und sie Fabre mitgegeben. Camille will sie sehen, Fabre rückt sie nicht heraus. Camille beschuldigt ihn, sie manipuliert zu haben. Fabre fragt, wofür man ihn eigentlich hält. Niemand antwortet. Fabre unterstellt, dass ein älterer Advokat, dessen Freispruch Camille durchgesetzt hat, in den frühen ’80er Jahren, als Camille hübsch und mittellos war, zu seinen Liebhabern zählte. Camille schnauzt ihn an, das kann schon sein, aber immer noch besser, als den Leuten für dicke Bestechungssummen das Leben retten, wie es Fabre ja offenbar macht. »Faszinierend«, sagt Hébert. »Können wir umblättern?«
    Vor der Tür warten Boten mit weiteren dringlichen Freilassungsordren. Wohl niemand bringt die Namen, die die Feder des Listenführers auslässt, mit den Kadavern in Verbindung, zu denen sie morgen oder übermorgen gehören werden. Im Saal herrscht kein Unrechtsbewusstsein, nur Müdigkeit und der Nachgeschmack kleinlichen Hickhacks. Camille trinkt ziemlich viel von Fabres Weinbrand. Gegen Tagesanbruch macht sich eine Art trüber Kameradschaft breit.
    Natürlich ist beratschlagt worden, wer die Schmutzarbeit erledigen soll – nicht die Listenführer, so viel steht fest, und auch nicht der Sansculotte mit der Pfeife. Man einigt sich darauf, eine Anzahl von Metzgern zu verpflichten und ihnen Lohn dafür zu versprechen. Die Absicht dahinter ist nicht menschenverachtend oder makaber, sondern vernünftig und human.
    Dummerweise mischen sich, als die Nachricht von einer Aristokratenverschwörung die Runde macht, auch begeisterte Amateure in die Truppe. Ihnen fehlt die Übung, und die Metzger schütteln die Köpfe über die unzureichenden Anatomiekenntnisse, die sie beweisen – es sei denn, sie legen es gleich darauf an, zu foltern und zu verstümmeln.
    Gegen Mittag Erbitterung: »Wozu haben wir uns eigentlich die Nacht mit diesen Listen um die Ohren gehauen?«, fragt Fabre. »Die schlachten doch so oder so die Falschen ab.«
    Camille muss an Marats Worte denken: Entweder wir steuern es selbst, oder es geschieht, ohne dass wir irgendetwas daran steuern können. Nun wird von Stunde zu Stunde Unaussprechlicheres gemeldet, und es scheint, dass sie die Nachteile beider Seiten abbekommen. Wir werden ab jetzt keine Sekunde mehr frei von Schuld leben können, nie mehr den Ruf wiedererlangen, den wir einmal besaßen, und doch haben wir das, was hier passiert, auch nicht im Ansatz geplant oder gewollt. Wir haben einfach nur den Blick abgewendet, wir haben unsere Hände in Unschuld gewaschen, wir haben eine Liste erstellt und eine Marschroute ausgearbeitet, um uns dann ruhig schlafen zu legen, während unsere Schergen ihr Ärgstes tun und Menschen von Helden zu Ungeheuern umdefiniert werden, zu Wilden, zu Kannibalen.
    Im Anfangsstadium gibt es zumindest ein Bemühen um Ordnung, einen (wenn auch noch so dürftigen) Anschein der Legalität. Eine Gruppe von Sansculotten, bewaffnet und rot bemützt, hinter dem größten Tisch, der sich auftreiben lässt; vor dem Tisch der Verdächtige. Draußen im Hof warten derweil die Henker mit Entermessern, Beilen, Piken. Die Hälfte der Verdächtigen lassen sie frei – begründet oder aus Sentimentalität oder weil sich in letzter Sekunde eine Verwechslung aufgeklärt hat. Über die Frage der Identifizierung entsteht im Lauf des Tages immer mehr Verwirrung, die Leute wollen ihre Papiere verloren haben

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