Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Händler boten auf wackeligen Ständen oder auf dem Boden ihre Waren feil. Er sah ein paar Körbe mit gebrauchten Büchern durch: eine sentimentale Romanze, mehrere Werke von Ariost, ein ungelesenes, noch ganz neues Buch, das in Edinburgh publiziert worden war: Chains of Slavery von Jean-Paul Marat. Er kaufte ein halbes Dutzend Bücher zu je zwei Sous. Hunde liefen in Rudeln herum, suchten den Markt nach Essbarem ab.
Ihm kam es vor, als wäre jeder zweite Mann, dem er begegnete, ein von Kalkstaub bedeckter Bauarbeiter. In dieser Stadt blieb kein Stein auf dem anderen. In manchen Vierteln wurden komplette Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht und dann neu hochgezogen. Die schwierigeren, spektakuläreren Aktionen zogen kleine Scharen von Schaulustigen an. Die Arbeiter waren arm, Saisonarbeiter. Wenn sie vor der Zeit fertig wurden, erhielten sie eine Zulage, weshalb sie in gefährlichem Tempo arbeiteten; Flüche hallten durch die Luft, Schweiß rann knochige Rücken hinunter. Was würde Maître Vinot sagen? Bauen Sie langsam …
Er traf auf einen Straßenmusiker, einen Mann mit angestrengtem, einst wohl kraftvollem Bariton. Sein Gesicht war fürchterlich zugerichtet, die eine, leere Augenhöhle war von bläulichem Narbengewebe überwachsen. Auf einem Plakat stand: HELD DES AMERIKANISCHEN BEFREIUNGSKRIEGES . Er sang Lieder über den Hof, in denen sich die Königin Lastern hingab, von denen in Arcis-sur-Aube noch nie jemand gehört hatte. Im Jardin du Luxembourg musterte eine Blondine Georges-Jacques von Kopf und Fuß und verwarf ihn dann offenkundig.
Er ging nach Saint-Antoine. Stellte sich vor die Bastille, schaute zu den acht Türmen hinauf. Er hatte Mauern wie Kliffs erwartet. Der höchste Turm war vielleicht – na ja, dreiundzwanzig, vierundzwanzig Meter hoch?
»Die Mauern sind zweieinhalb Meter dick«, teilte ihm ein Passant mit.
»Ich habe mir das alles größer vorgestellt.«
»Es reicht«, sagte der Mann säuerlich. »Oder wären Sie gern da drin? Es gibt Männer, die nie wieder herausgekommen sind.«
»Sind Sie von hier?«
»O ja«, sagte der Mann. »Und wir wissen alle Bescheid. Es gibt dort drinnen unterirdische Zellen, in denen es von Ratten nur so wimmelt und Wasser die Wände hinunterläuft.«
»Ja, von den Ratten habe ich auch schon gehört.«
»Und dann die Zellen unter dem Dach – auch kein Vergnügen. Im Sommer glühend heiß, im Winter eiskalt. Aber dort landen nur die, die Pech haben. Manche Leute werden auch anständig behandelt, es kommt sehr darauf an, wer man ist. Die haben dann Betten mit richtigen Vorhängen und dürfen ihre Katze mitbringen, um das Ungeziefer in Grenzen zu halten.«
»Und was kriegt man zu essen?«
»Das dürfte ziemlich unterschiedlich sein. Hängt wiederum davon ab, wer man ist. Man sieht durchaus auch mal, wie eine Rinderhälfte reingetragen wird. Einer meiner Nachbarn schwört, dass er vor ein paar Jahren gesehen hat, wie ein Billardtisch reingeschafft wurde. Ich würde sagen, es ist wie auch sonst im Leben«, sagte der Mann. »Es gibt Gewinner und Verlierer.«
Georges-Jacques schaut noch einmal hoch, und was er sieht, beleidigt sein Auge. Unbezwingbar, keine Frage. Die Menschen hier gehen ihrem Leben, ihrer Arbeit nach – anscheinend sind es Brauer und Polsterer –, sie leben direkt neben diesen Mauern, sehen sie jeden Tag, und irgendwann nehmen sie sie nicht mehr wahr, sie sind da und doch wieder nicht. Das Entscheidende ist nicht die Höhe der Mauern, es sind die Bilder, die man im Kopf hat: die Gefangenen, die vor Einsamkeit verrückt geworden sind, die vom Blut glitschigen Steinplatten, die Kinder, die im Stroh geboren werden. Es geht nicht an, dass ein Mann, den man zufällig auf der Straße trifft, die Welt, die man im Kopf hat, einfach über den Haufen wirft. Ist denn gar nichts mehr heilig? Gelb und blau fließt der Fluss vorbei, von den Färbereien verschmutzt.
Und als sich der Abend herabsenkt, eilen die Beamten nach Hause, und die Juweliere an der Place Dauphine kommen mit ihren klirrenden Schlüsselbunden heraus, um ihre Diamanten über Nacht wegzuschließen. Kein heimkehrendes Vieh, keine Dämmerung über den Feldern, ein Moment der Sentimentalität, geh darüber hinweg. In der Rue de Saint-Jacques rüstet sich die Schuhmachergenossenschaft zu einem Zechgelage. In einer Wohnung im dritten Stock in der Rue de la Tixanderie öffnet eine junge Frau ihrem neuen Liebsten die Tür und zieht sich aus. Auf der Île Saint-Louis sieht sich Maître
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