Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Winter 1786 warf sie ihm lange vertrauliche Blicke zu, im Frühjahr hauchte sie einen züchtigen Kuss auf seine geschlossenen Lippen. Und M.Charpentier dachte: Er hat eine Zukunft.
Sein Problem ist, dass man, um als junger Anwalt Karriere zu machen, eine Unterwürfigkeit an den Tag legen muss, die ihn zermürbt. Manchmal zeichnet sich die Anspannung auf seinem derben, roten Gesicht ab.
Maître Desmoulins praktizierte mittlerweile seit einem halben Jahr als Anwalt. Sein Erscheinen vor Gericht war eine Rarität, und wie so manche Rarität zog es eine Schar von Connaisseuren an, die im Laufe der Wochen fordernder wurden und weniger leicht zu beeindrucken waren. Eine Horde Studenten hängte sich an seine Fersen, als wäre er ein großer Jurist; sie verfolgten die Entwicklung seines Stotterns und seine Versuche, es loszuwerden, indem er sich erregte. Auch sein nachlässiger Umgang mit Fakten entging ihnen nicht, ebenso wenig wie seine Fähigkeit, noch das banalste richterliche Diktum zum Dekret eines bewehrten Tyrannen umzudeuten, dessen Festung er und nur er allein stürmen musste. Es war eine sehr eigene Art, die Welt zu sehen, die unvermeidliche Sichtweise des Wurms, der sich krümmt, wenn er getreten wird.
Bei der heutigen Verhandlung war es um Weiderechte gegangen, obskure Präzedenzfälle, die keine Rechtsgeschichte schreiben würden. Maître Desmoulins raffte seine Unterlagen zusammen, strahlte den Richter an und verließ den Gerichtssaal mit fliegendem Haar, munter wie ein frisch entlassener Häftling.
»Halt!«, hörte er d’Anton rufen. Er blieb stehen und drehte sich um. D’Anton schloss zu ihm auf. »Ich sehe schon, dass Sie es nicht gewohnt sind, zu gewinnen. Sie müssen Ihrem Opponenten Ihr Mitgefühl ausdrücken.«
»Wozu wollen Sie denn mein Mitgefühl? Sie haben doch Ihr Honorar. Kommen Sie, gehen wir ein paar Schritte – ich bin nicht gern hier.«
D’Anton ließ nicht locker. »Es ist ein geziemender Akt der Heuchelei. Das gehört sich einfach so.«
Camille Desmoulins wandte im Gehen den Kopf und schaute ihn zweifelnd an. »Sie meinen, ich darf Schadenfreude zeigen?«
»Wenn Sie wollen.«
»Ich darf sagen: ›Das lernt man also bei Maître Vinot?‹«
»Wenn es Ihnen ein Bedürfnis ist. Mein erster Fall war ganz ähnlich wie dieser. Ich habe einen Hirten vertreten, gegen seinen Lehnsherrn.«
»Aber Sie haben sich weiterentwickelt.«
»Moralisch nicht, nein. Haben Sie auf Ihr Honorar verzichtet? Das dachte ich mir. Dafür hasse ich Sie.«
Desmoulins blieb wie angewurzelt stehen. »Wirklich, Maître d’Anton?«
»Herrje, kommen Sie – ich dachte, Sie wüssten starke Gefühle zu würdigen. Im Gerichtssaal hat es daran jedenfalls nicht gemangelt. Wobei Sie dem Richter gegenüber sehr zurückhaltend waren, finde ich – es ist ja nicht einmal zu üblen persönlichen Beleidigungen gekommen.«
»Stimmt, aber das ist nicht immer so. Ich habe nicht viel Übung im Gewinnen, wie Sie ganz richtig bemerkt haben. Was würden Sie sagen, d’Anton: Bin ich ein schlechter Anwalt, oder habe ich bloß lauter hoffnungslose Fälle?«
»Wie meinen Sie das, was würde ich sagen?«
»Wenn Sie ein unparteiischer Beobachter wären.«
»Wie kann ich das sein?« Jeder kennt dich, dachte er. »Meiner Meinung nach«, sagte er, »wäre es besser, wenn Sie mehr Fälle übernähmen, jedes Mal erschienen, wenn man Sie erwartet, und gegen Honorar arbeiten würden, so wie jeder normale Anwalt.«
»Wie schön«, sagte Camille. »Eine echte Standpauke. M. Vinot hätte sie nicht besser halten können. Bald werden Sie Ihren Bauchansatz tätscheln und mir einen Lebensplan empfehlen. Aber wir haben geahnt, was in Ihrer Kanzlei vor sich geht. Wir hatten unsere Spione.«
»Trotzdem habe ich recht.«
»Es gibt eine Menge Leute, die einen Anwalt brauchen und sich keinen leisten können.«
»Stimmt, aber das ist ein gesellschaftliches Problem, und dafür sind Sie nicht verantwortlich.«
»Man muss den Leuten helfen.«
»Muss man das?«
»Ja. Gut, ich sehe das Gegenargument, rein philosophisch betrachtet sollte man sie vielleicht verrotten lassen, aber wenn man direkt miterlebt, wie bei ihnen etwas schiefläuft: ja.«
»Auf eigene Kosten?«
»Auf jemand anderes Kosten darf man es ja nicht.«
D’Anton betrachtete ihn genau. Niemand, dachte er, kann sich wünschen, so zu sein. »Sie finden es sicher tadelnswert, dass ich versuche, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen?
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