Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
denken Sie niemals, Sie würden im Vertrauen oder unter vier Augen mit jemandem sprechen, denn es kann immer sein, dass jemand Sie bewusst zum Reden bringt und Sie dann der Obrigkeit meldet. O ja«, sagte er mit einem Nicken, das zeigte, dass er einen beherzten Gegner zu nehmen wusste, »o ja, man lernt das eine oder andere in unserem Beruf. Und als junger Mann muss man lernen, seine Zunge zu zügeln.«
»Sehr wohl, Maître Vinot«, sagte Georges-Jacques demütig.
Ein Mann steckte den Kopf durch die Tür. »Maître Perrin lässt fragen«, sagte er, »ob Sie Jean-Nicolas’ Sohn einstellen wollen?«
»Oh Gott«, ächzte Maître Vinot, »haben Sie Jean-Nicolas’ Sohn mal gesehen? Ich meine, hatten Sie mal das Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten?«
»Nein«, sagte der Mann. »Ich dachte einfach, der Sohn eines alten Freundes, Sie wissen schon. Außerdem ist er sehr intelligent, wie man hört.«
»Ach ja? Man hört auch noch ganz anderes. Nein, ich stelle diesen dreisten Burschen hier ein, diesen jungen Mann aus Troyes, der sich bereits als großmäuliger Aufwiegler entlarvt hat, aber was ist das schon, gemessen an den Gefahren eines einzigen Arbeitstags mit dem jungen Desmoulins?«
»Keine Sorge. Perrin will ihn ohnehin selbst übernehmen.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Hat Jean-Nicolas denn nie den Tratsch gehört? Nein, er war schon immer etwas begriffsstutzig. Aber das ist nicht mein Problem – soll Perrin nur machen. Leben und leben lassen, sage ich immer«, erklärte Maître Vinot Danton. »Maître Perrin ist ein alter Kollege von mir, sehr beschlagen im Steuerrecht – es heißt, er sei Sodomit, aber geht mich das etwas an?«
»Ein privates Laster«, sagte Danton.
»Genau.« Er blickte zu Danton auf. »Ich habe mich verständlich gemacht, hoffe ich?«
»Ja, Maître Vinot. Ich würde sagen, mehr als das.«
»Gut. Hören Sie, da sowieso niemand Ihre Handschrift lesen kann, ist es wenig sinnvoll, Sie im Büro zu beschäftigen, deshalb fangen Sie besser am anderen Ende unserer Tätigkeit an – Fallbeobachtung nennen wir das. Sie werden einen täglichen Kontrollgang zu all den Prozessen machen, an denen unsere Kanzlei beteiligt ist. So werden Sie herumkommen: Zivilsachen, Billigkeitssachen, Strafsachen. Sind Sie am Kirchenrecht interessiert? Machen wir selbst nicht, aber wir werden Sie an einen Kollegen weiterreichen. Mein Rat an Sie lautet« – er hielt kurz inne – »haben Sie es nicht zu eilig. Bauen Sie langsam an Ihrer Karriere; jeder, der stetig arbeitet, kann bescheidene Erfolge erzielen, mehr als Stetigkeit ist dazu nicht erforderlich. Natürlich braucht man auch die richtigen Verbindungen, die werden Sie durch meine Kanzlei bekommen. Versuchen Sie, einen Lebensplan für sich zu entwerfen. In Ihrer Region gibt es jede Menge Arbeit. In fünf Jahren werden Sie sich etabliert haben.«
»Ich möchte gern in Paris Karriere machen.«
Maître Vinot lächelte. »Das sagen alle jungen Männer. Na ja, ziehen Sie morgen erst einmal los und schauen sich das Ganze an.«
Sie gaben sich förmlich die Hand, nun doch wie Engländer. Georges-Jacques polterte die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Er musste immer wieder an Françoise-Julie denken. Alle paar Minuten kam sie ihm in den Sinn. Er hatte ihre Adresse, Rue de la Tixanderie, wo immer das auch sein mochte. Dritter Stock, hatte sie gesagt, nichts Besonderes, aber mein eigenes Reich. Er fragte sich, ob sie wohl mit ihm ins Bett gehen würde. Es war denkbar. Dinge, die in Troyes niemals möglich gewesen wären, schienen es hier sehr wohl zu sein.
Den ganzen Tag und die halbe Nacht lang rumpelten Fuhrwerke durch die engen, mangelhaften Straßen. Kutschen drängten ihn gegen Hauswände. Auf den Gefährten prangten in kräftigen heraldischen Farben die Wappen und Totenschilde ihrer Besitzer; samtmäulige Pferde setzten ihre Füße graziös in den städtischen Dreck. Im Wageninnern lehnten sich die Besitzer mit abwesendem Blick zurück. Auf Brücken und Kreuzungen drängten sich Kutschen, Tafelwagen und Gemüsekarren und verkeilten sich ineinander. Lakaien hingen an der Rückwand von Equipagen und tauschten Beleidigungen mit Kohlehändlern und auswärtigen Bäckern. Die durch Unfälle entstandenen Probleme wurden unter den gleichgültigen Blicken der Polizei gemäß den anerkannten Tarifen für Arme, Beine und Todesfälle durch Barzahlung umgehend gelöst.
Auf dem Pont-Neuf standen die Buden der öffentlichen Briefschreiber, und
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