Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
würde sich bestimmt scheiden lassen. Oder vielleicht würde seine Frau ja auch sterben.«
»Das wäre ein ziemlich unwahrscheinliches Zusammentreffen. Und überhaupt, was soll dieses Gerede übers Sterben?«
»Es gibt Hunderte von Krankheiten. Man kann nie wissen.«
»Das habe ich früher auch oft gedacht. Als ich frisch verheiratet war und mir alles Angst gemacht hat.«
»Aber Witwe bleiben würdest du nicht, oder?«
»Doch.«
»Das würde Camille doch sicher nicht wollen?«
»Wieso denn nicht? Er ist sehr egoistisch.«
»Er würde bestimmt wieder heiraten, wenn du sterben würdest.«
»Noch in derselben Woche«, stimmt Lucile zu. »Jedenfalls, wenn mein Vater auch sterben würde. Aber das wäre gemäß deinem Weltbild, nach dem die Leute paarweise aus dem Leben scheiden, ja durchaus wahrscheinlich.«
»Es gibt doch sicher noch andere Männer, die du genügend magst, um sie zu heiraten.«
»Ich wüsste keinen. Außer Georges.«
Das war ihre Art, solche Unterhaltungen zu beenden, wenn Louise zu sehr bohrte – sie erinnerte sie knapp, aber brutal daran, wie sie zueinander standen. Es machte ihr keine Freude, aber andere waren noch skrupelloser. Louise saß im bläulichgrauen Licht, starrte in die Ruinen des vergangenen Jahres und versuchte sich an Musik, die zu schwer für sie war. Camille arbeitete. Die disharmonischen Akkorde und halb erstickten Töne waren das Einzige, was in der Wohnung zu hören war.
Um vier kam er mit einem Stapel Blätter herein. Er setzte sich vor dem Kamin auf den Boden. Lucile griff nach den Blättern und begann zu lesen. Nach einer Weile blickte sie auf. »Das ist sehr gut«, sagte sie scheu. »Ich glaube, das wird das Beste, was du je geschrieben hast.«
»Möchtest du es lesen, kleine Louise?«, fragte er. »Es stehen ein paar nette Dinge über deinen Mann drin.«
»Ich möchte ja gern am politischen Geschehen Anteil nehmen«, sagte sie. »Aber er will das nicht.«
»Ich nehme mal stark an«, sagte Camille gereizt, »dass er nichts dagegen hätte, wenn du einigermaßen kundig Anteil nähmst. Er will bloß deine dummen, gewöhnlichen Vorurteile nicht hören.«
»Camille«, sagte Lolotte leise. »Sie ist noch ein Kind. Woher soll sie Bescheid wissen?«
Um fünf kam Robespierre. »Hallo, Bürgerin Danton«, begrüßte er sie, als wäre sie eine Erwachsene. Er küsste Lucile auf die Wange und strich Camille über den Kopf. Man brachte ihm das Kind; er hielt es in die Höhe und fragte: »Na, wie geht’s, Patensohn?«
»Frag ihn das lieber nicht«, sagte Camille. »Er hält fünfstündige Reden, wie früher Necker, und sie sind genauso unverständlich.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Robespierre und drückte den Kleinen an seine Schulter. »Für mich sieht er nicht aus wie ein Bankier. Wird er mal eine Zierde der Pariser Anwaltschaft?«
»Nein, ein Dichter«, befand Camille. »Der auf dem Land lebt. Und es sich rundum gut gehen lässt.«
»Wahrscheinlich«, sagte Robespierre. »Denn sein langweiliger alter Patenonkel wird vermutlich nicht verhindern können, dass er vom rechten Weg abkommt.« Er reichte das Kind seinem Vater und war jetzt ganz geschäftsmäßig, wie er da in seiner typisch aufrechten Haltung in einem Sessel neben dem Kamin saß. »Sag Desenne, dass er mir die Druckfahnen schicken soll, sobald sie fertig sind. Normalerweise würde ich ja das Manuskript lesen, aber ich habe nicht die geringste Lust, mich mit deiner Klaue abzumühen.«
»Dann musst du die Fahnen auch korrigieren, sonst dauert es zu lange. Aber pfusch mir nicht in der Zeichensetzung herum.«
»Ach je, Camille d’Églantine«, sagte Robespierre spöttisch. »Kein Mensch wird sich für die Zeichensetzung interessieren – es geht um den Inhalt.«
»Es ist unschwer zu erkennen, warum du niemals einen Literaturpreis gewinnen wirst.«
»Ich dachte, in dieser neuen Zeitung steckt dein Herzblut, deine ganze Leidenschaft?«
»Genauso ist es, und die Zeichensetzung ist Teil meiner Leidenschaft.«
»Wann erscheint die zweite Ausgabe?«
»Ich hoffe, dass alle fünf Tage eine erscheint – am 5. Dezember, am 10., zum ehemaligen Weihnachtstag – so lange, bis das Ziel erreicht ist.«
Robespierre zögerte kurz. »Aber zeig mir alles, ja? Ich möchte nicht, dass du mir Dinge in den Mund legst, die ich nicht gesagt habe, und mir Ansichten unterschiebst, die ich nicht vertrete.«
»Würde ich so etwas tun?«
»Aber sicher, du tust es ja bereits. Schau nur, wie dein Kind dich ansieht. Es kennt
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