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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Wetter vorherzusagen. Es gab ein paar Stunden, in denen man das Gefühl hatte: »So ist das Leben wirklich«, man hielt es für Glück, und das war es auch. Man dachte darüber nach, während es stattfand. Abends kam man müde nach Hause, und danach ging alles weiter wie zuvor. Man sagte: »Letzte Woche, als wir aufs Land gefahren sind, war ich glücklich.«
    Jetzt war sie über diese Sonntagsvergnügungen hinausgewachsen, der Fluss sah immer gleich aus, und wenn man drinnen blieb, war das auch kein Drama. Nach ihrer Kindheit – nachdem sie sich gesagt hatte: »Meine Kindheit ist vorbei« – wurden Ereignisse, die sich in ihrer Vorstellung zutrugen, wichtiger als alles, was im Haushalt der Duplessis geschah. Wenn ihre Vorstellungskraft sie im Stich ließ, wanderte sie lustlos und elend durchs Haus, den Kopf voll destruktiver Gedanken. Sie war froh, wenn es Zeit wurde, schlafen zu gehen, und stand morgens nur ungern auf. So war das Leben. Sie legte ihre Tagebücher beiseite, voller Entsetzen über ihre formlosen Tage und die noch vor ihr liegende vergeudete Zeit.
    Oder sie griff nach der Feder: Anne Lucile Philippa, Anne Lucile. Wie bedrückend, zu sehen, wie und was du schreibst, wie bedrückend, dass ein so gebildetes und kultiviertes Mädchen wie du nichts Besseres zu tun hat – keine Musikstunden, keine Handarbeiten, keine gesundheitsfördernden Nachmittagsspaziergänge, nur diese Todessehnsucht, diese Fantasien vom Morbiden und Grandiosen, diese Blutsehnsucht, diese Bilder , gütiger Gott, Stricke, Klingen, und der Geliebte ihrer Mutter mit dieser Ausstrahlung des Schon-halb-Toten und seinem sinnlichen, zerdrückt aussehenden Mund. Anne Lucile Duplessis. Die Initialen würden sich nicht verändern. Doch mit der gepflegten Langeweile wäre es vorbei. Sie schaute sich in die Augen, lächelte, warf den Kopf in den Nacken und brachte sehr vorteilhaft ihren langen weißen Hals zur Geltung, der einmal, so glaubte ihre Mutter, die Herzen ihrer Bewunderer brechen würde.
    Gestern hatte Adèle diese folgenschwere Unterhaltung begonnen. Dann war sie selbst in den Salon gegangen und hatte gesehen, wie ihre Mutter die Zunge zwischen die Zähne ihres Geliebten schob, ihre Finger in sein Haar flocht und sich zitternd in seine eleganten schmalen Hände gab. Sie sah diese Hände vor sich, sah seinen Zeigefinger auf dem Papier, auf ihrer Handschrift, hörte ihn sagen: Lucile, mein Schatz, hier sollte der Ablativ stehen, und ich fürchte, das, was deine Übersetzung nahelegt, hat sich Julius Cäsar in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.
    Und heute hielt der Geliebte ihrer Mutter um ihre Hand an. Wenn uns etwas – willkommenes Ereignis, und sei es noch so seltsam – aus der Monotonie reißt, dann möge doch bitte nicht gleich alles auf einmal geschehen!
    CLAUDE : Natürlich war das mein letztes Wort in dieser Sache. Ich hoffe, er ist so klug, das zu akzeptieren. Ich habe keine Ahnung, wie er überhaupt auf diese Idee gekommen ist. Du, Annette? Früher wäre das vielleicht noch anders gewesen. Als ich ihn kennenlernte, war ich zugegebenermaßen von ihm angetan. Sehr intelligent. Aber was nützt alle Intelligenz, wenn jemand kein moralischer Mensch ist? Nicht vertrauenswürdig? Er hat einen Ruf, der einen schwindeln macht … Nein, nein, nein. Davon will ich nichts hören.«
    »Nein, das willst du wohl nicht«, sagte Annette.
    »Ehrlich gesagt überrascht es mich, dass er das überhaupt wagt.«
    »Mich auch.«
    Er erwog, Lucile zu Verwandten zu schicken. Doch das könnte negativ ausgelegt werden – es könnte den Anschein erwecken, als hätte sie etwas getan, was sie nicht hätte tun sollen.
    »Wie wäre es, wenn …«
    »Was?«, fragte Annette ungeduldig.
    »Wenn ich sie ein, zwei jungen Männern vorstellen würde, die für sie in Frage kämen?«
    »Sechzehn ist zu jung zum Heiraten. Und sie ist schon eitel genug. Aber Claude – du musst tun, was du für richtig hältst. Du bist das Familienoberhaupt. Du bist der Vater des Mädchens.«
    Nachdem Annette sich mit einem großen Glas Cognac gestärkt hatte, schickte sie nach ihrer Tochter.
    »Den Brief.« Sie schnipste mit den Fingern.
    »Ich habe ihn nicht bei mir.«
    »Wo ist er?«
    »Er steckt in den Persischen Briefen .«
    Eine unangemessene Heiterkeit erfasste Annette. »Vielleicht möchtest du ihn lieber in meinem Exemplar von Gefährliche Liebschaften aufbewahren?«
    »Ich wusste nicht, dass du eins hast. Darf ich es lesen?«
    »Ganz gewiss nicht. Vielleicht

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