Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
den Keller gegangen.«
»Das kann nur im Sinn des öffentlichen Wohls sein. Ich bewundere Mirabeau.«
»Natürlich. Da muss einer nur sittenlos sein, ein moralischer Bankrotteur – nein, Camille, lenken Sie mich nicht ab.«
»Ich dachte, Sie wollten Ablenkung«, sagte er düster.
Sie achtete darauf, immer einen gewissen Abstand zu ihm zu halten, nutzte die Möbel, um ihre Entschlossenheit zusätzlich zu bewehren. »Das muss aufhören«, sagte sie. »Sie dürfen nicht mehr herkommen. Die Leute reden, denken sich ihren Teil. Und ich habe weiß Gott genug davon. Wie in aller Welt sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich die Sicherheit meiner glücklichen Ehe für eine heimliche Affäre mit Ihnen aufgeben würde?«
»Ich glaube es einfach.«
»Sie denken, ich sei in Sie verliebt, nicht wahr? Sie sind in einem Maße von sich eingenommen –«
»Annette, lassen Sie uns durchbrennen. Heute Nacht. Ja?«
In diesem Moment hätte sie fast Ja gesagt.
Camille stand auf, als wollte er vorschlagen, gemeinsam Annettes Sachen zu packen. Sie war im Zimmer auf und ab gegangen und blieb nun vor ihm stehen. Ließ den Blick auf seinem Gesicht ruhen, strich mit der einen Hand unnötigerweise ihren Rock glatt. Dann hob sie die andere und legte sie auf seine Schulter.
Er trat auf sie zu, umfasste ihre Taille. Ihre Körper berührten sich der Länge nach. Sein Herz klopfte heftig. Mit so einem Herz, dachte sie, lebt er nicht mehr lange. Sie schaute ihm kurz in die Augen. Zögernd fanden sich ihre Lippen. Einige Sekunden verstrichen. Annette fuhr mit den Fingernägeln über den Nacken ihres Geliebten, schob die Finger in sein Haar, zog seinen Kopf erneut zu sich.
Hinter ihnen ertönte ein spitzer Aufschrei. »So«, sagte dann eine belegte Stimme. »Es stimmt also. Und zwar im technischen Sinn, wie Adèle es genannt hat.«
Annette entzog sich ihm und wirbelte herum, alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Camille betrachtete ihre Tochter eher interessiert als überrascht, doch er errötete, ganz zart. Und Lucile war entsetzt, keine Frage, deshalb hatte ihre Stimme auch so schrill und ängstlich geklungen, deshalb stand sie jetzt da wie angewurzelt.
»Das hatte überhaupt nichts Technisches«, sagte Camille. »Denkst du das wirklich, Lucile? Das finde ich traurig.«
Lucile wandte sich um und floh. Annette atmete hörbar aus. Noch ein paar Minuten länger, dachte sie, und der Himmel weiß, was dann … Was bin ich doch für eine lächerliche, wilde, dumme Frau. »Also«, sagte sie. »Verschwinden Sie, Camille. Und kommen Sie mir ja nicht wieder unter die Augen, sonst lasse ich Sie verhaften.«
Camille wirkte eingeschüchtert. Er entfernte sich langsam rückwärts, als verließe er eine königliche Audienz. Sie hätte ihn am liebsten angeschrien: »Was denkst du jetzt?« Doch auch sie war verschreckt angesichts der drohenden Katastrophe.
»Ist das der Gipfel deines Irrsinns?«, fragte d’Anton Camille. »Oder kommt noch mehr?«
Irgendwie – er hätte nicht sagen können, wie – war er zu Camilles Vertrautem geworden. Was dieser ihm gerade erzählte, war unwirklich und gefährlich und vielleicht auch ein wenig – er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen – verworfen.
»Du hast selbst erzählt«, protestierte Camille, »dass du dich um Gabrielles Mutter bemüht hast, als du Gabrielle gewinnen wolltest. Und das stimmt auch, alle haben es miterlebt, wie du auf Italienisch geprahlt und mit den Augen gerollt und den ungestümen Südländer gegeben hast.«
»Ja, gut, aber das ist ja normal. Es ist eine harmlose, notwendige und gesellschaftlich akzeptierte Konvention. Es ist anders – ach, was sage ich, es ist Welten entfernt von dem, was du vorhast, nämlich, wenn ich es recht verstehe, etwas mit der Tochter anzufangen, um an die Mutter heranzukommen.«
»Ich weiß nicht, ob ›etwas anfangen‹ es trifft«, sagte Camille. »Ich glaube, es wäre besser, sie zu heiraten. Dauerhafter, weißt du? Wenn ich mich zum Familienmitglied mache. Dann kann Annette mich nämlich nicht verhaften lassen – nicht, wenn ich ihr Schwiegersohn bin.«
»Dabei solltest du verhaftet werden«, sagte d’Anton andächtig. »Man sollte dich wegsperren.« Er schüttelte den Kopf …
Am nächsten Tag erhielt Lucile einen Brief. Sie erfuhr nie, wie er hergelangt war, man brachte ihn ihr aus der Küche herauf. Er war wohl bei jemandem aus der Dienerschaft abgegeben worden. Normalerweise wäre er direkt an Madame gegangen, doch es gab eine
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