Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Lucile«, sagte ihre Schwester und lachte.
Adèle ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Mit etwas Mühe wandte Lucile ihre Gedanken wieder der Gegenwart zu und richtete den Blick auf das Gesicht ihrer Schwester. Sie entwickelt sich zurück, dachte Lucile. Wenn ich eine verheiratete Frau gewesen wäre, und sei es noch so kurz, würde ich meine Nachmittage nicht in meinem Elternhaus verbringen.
»Ich fühle mich einsam«, sagte Adèle. »Und ich langweile mich. Ich kann nicht ausgehen, weil es dafür noch zu früh ist, und ich muss diese grässliche Trauerkleidung tragen.«
»Hier ist es auch langweilig«, sagte Lucile.
»Hier ist es wie immer. Oder nicht?«
»Bis auf die Tatsache, dass Claude noch seltener zu Hause ist als sonst. Was Annette die Gelegenheit gibt, noch mehr Zeit mit ihrem Freund zu verbringen.«
Wenn sie allein waren, nannten sie ihre Eltern ganz frech beim Vornamen.
»Und wie geht es dem Freund?«, fragte Adèle. »Macht er immer noch deine Lateinaufgaben?«
»Ich habe kein Latein mehr.«
»Wie bedauerlich. Kein Vorwand mehr, die Köpfe zusammenzustecken.«
»Ich hasse dich, Adèle.«
»Natürlich tust du das«, sagte ihre Schwester gutmütig. »Denk nur daran, wie erwachsen ich bin. Denk an all das wunderbare Geld, das mir mein armer Mann hinterlassen hat. Denk daran, was ich alles weiß, was du nicht weißt. Denk daran, wie viel Spaß ich haben werde, wenn die Trauerzeit vorbei ist. Denk an all die Männer, die es auf dieser Welt gibt! Aber nein. Du denkst nur an einen.«
»Ich denke nicht an ihn«, sagte Lucile.
»Hat Claude eigentlich irgendeine Ahnung, was sich da anbahnt, mit ihm und Annette und mit ihm und dir?«
»Da bahnt sich überhaupt nichts an. Begreifst du das nicht? Das ist es doch gerade: Da ist nichts.«
»Na ja, vielleicht nicht im technischen Sinn«, sagte Adèle. »Aber ich glaube nicht, dass Annette noch lange standhält – und sei es nur aus purer Erschöpfung. Und du – du warst zwölf, als du ihn das erste Mal gesehen hast. Ich erinnere mich noch daran. Deine kleinen Schweinsäuglein haben richtig aufgeleuchtet.«
»Ich habe keine Schweinsäuglein. Und sie haben nicht aufgeleuchtet.«
»Aber er ist genau das, was du suchst«, sagte Adèle. »Mit dem Leben von Maria Stuart hat er zugegebenermaßen nicht viel zu tun. Aber mit ihm kannst du die Leute brüskieren.«
»Er würdigt mich doch keines Blickes«, sagte Lucile. »Er denkt, ich sei noch ein Kind. Er bemerkt mich gar nicht.«
»Natürlich tut er das«, sagte Adèle. »Probier’s doch aus.« Sie deutete in Richtung des Salons, auf dessen geschlossene Tür. »Und dann berichte. Aber das traust du dich wohl nicht.«
»Ich kann doch nicht einfach da reinspazieren.«
»Warum denn nicht? Wenn sie nur dasitzen und sich unterhalten, können Sie ja wohl kaum etwas dagegenhaben. Und wenn nicht – na ja, genau das wollen wir ja herausfinden!«
»Warum gehst du nicht selbst rein?«
Adèle schaute sie an, als wäre sie völlig unbedarft. »Weil man dir eher unschuldige Motive unterstellen würde als mir.«
Das sah Lucile ein, und Mutproben konnte sie einfach nicht widerstehen. Adèle sah ihr nach, als sie in ihren seidenen Pantoffeln lautlos über den Teppich ging. Camilles seltsames kleines Gesicht kam ihr in den Sinn. Der bringt uns noch ins Grab, dachte sie – wenn nicht, schlage ich meine Kristallkugel in Stücke und fange an zu stricken.
Camille war pünktlich; kommen Sie um zwei, hatte sie gesagt. In Angriffsstimmung, fragte sie ihn gleich, ob er an seinen Nachmittagen eigentlich nichts Besseres vorhabe. Er würdigte das keiner Antwort, spürte aber, dass etwas im Busch war.
Annette hatte beschlossen, den Teil ihrer Persönlichkeit auszuspielen, den ihre Freunde »grande dame« nannten. Dazu gehörte es, durchs Zimmer zu rauschen und schalkhaft zu lächeln.
»Also«, sagte sie. »Es gibt Regeln, und Sie haben sich entschieden, sie zu missachten. Sie haben jemandem von uns erzählt.«
»Ach«, sagte Camille und spielte an seinem Haar herum. »Wenn es doch nur etwas zu erzählen gäbe.«
»Claude wird es herausfinden.«
»Ach – gäbe es doch nur etwas herauszufinden.« Er blickte gedankenverloren an die Decke. »Wie geht es ihm denn?«, fragte er schließlich.
»Er ist verärgert«, sagte Annette geistesabwesend. »Sehr verärgert. Er hat viel Geld in das Wasserpumpenprojekt der Gebrüder Périer investiert, und jetzt hat der Comte de Mirabeau ein Pamphlet dagegen verfasst, und die Aktien sind in
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